Es ist kalt und grau in Pfullendorf. Das 13.000-Einwohner-Städtchen im Kreis Sigmaringen wirkt etwas trostlos bei diesem Wetter. Vor der Stadthalle hinter dem Stadtgarten hat sich eine lange Warteschlange gebildet, sie reicht fast über den gesamten Parkplatz, bis hinauf über die Treppenstufen zum Eingang der Halle. Es ist 14.15 Uhr – vor 15 Minuten hat die Impfaktion eines mobilen Impfteams der Oberschwabenklinik begonnen. Wer hier an die Reihe kommen will, muss Geduld mitbringen – und Stehvermögen.
Die Szene steht beispielhaft für eine Reihe von Impfaktionen in der Region. Wenige Tage zuvor hatte sich in Ravensburg ähnliches abgespielt, ebenso im Hegau. Die Zahlen steigen und die Menschen wollen sich so schnell wie möglich – meist zum dritten Mal – impfen lassen. Der geringste Teil der Besucher sind solche, die man damit eigentlich erreichen will: Erstimpflinge, um die Impfquote im Land endlich nach oben zu bringen.
Am nächsten Tag wird erstmals die Alarmstufe im Land ausgelöst, weit über 400 Covid-Patienten müssen bereits auf den Intensivstationen behandelt werden. Für Ungeimpfte bedeutet das massive Einschränkungen – einkaufen in vielen Geschäften des Einzelhandels geht nur noch mit Test, Restaurants, Kino und Veranstaltungen sind gleich ganz tabu.
Impfgegner lassen sich impfen
Für Robert Köslin ist das nicht der Grund, weshalb er sich impfen lassen will. Der bärtige 36-Jährige steht barfüßig in Schlappen an, die Kälte scheint ihm nichts auszumachen. Der 36-Jährige hat beruflich mit Corona-Infizierten zu tun. Er muss viele Hygienevorschriften einhalten – trotzdem war er bislang nicht geimpft. Wo er tätig ist, will er nicht sagen, auch deshalb kein Foto von sich machen lassen. Schon jetzt werde er „auf der Arbeit dumm angemacht“, weil er sich bislang nicht habe impfen lassen. „Ich musste mich immer rechtfertigen“, sagt er. Nun sei ihm der Druck zu hoch geworden.
Weshalb er nicht von der Impfung überzeugt ist? Ihm missfalle, dass die Pharmakonzerne nicht für Spätfolgen haften müssten. Es ist einer der Falschnachrichten, die im Netz kursieren – und die so nicht stimmen. Tatsächlich hat die EU mit den Herstellern vereinbart, dass im Haftungsfall eines Herstellers der jeweilige Mitgliedstaat die Kosten übernimmt. Der Hersteller haftet aber weiter für sein Produkt.
Ein Corona-Leugner oder Impfgegner sei er aber nicht, sagt Köslin. Die Tests, die findet er gut. Aber dann auch für alle, unabhängig vom Impfstatus, fordert er – um Impfdurchbrüche schneller zu erkennen.
„Ja eben, testen reicht doch“, sagt eine Frau, die hinter ihm wartet. Und auch sie sagt, sie sei nie krank. Angst vor einer Corona-Infektion habe sie nicht. Aber vor dieser Impfung. „Ich bin keine Impfgegnerin“, sagt die Frau Mitte 40, die ihren Namen nicht sagen will, weil sie bei einer Behörde arbeite. „Aber mir ist dieser Impfstoff nicht ausgeklügelt genug“, erklärt sie. Sie spricht von einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, von indirektem Impfzwang. „Ich will wieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben, deshalb mach ich das“, sagt sie.

Es geht voran in der Warteschlange, immer wieder ein paar Schritte. Vor Ort ist niemand, der die Wartenden informiert oder das Schlangestehen organisiert. In der Halle niemand, der schon einmal Formulare aushändigt, die dann drinnen unterzeichnet abgegeben werden können.
Sandy Ruf und ihre Mutter Susanne Müller warten gemeinsam. Die 30-Jährige hat sich nach eigenen Angaben „bislang nicht so damit auseinandergesetzt“, ob sie sich impfen lassen sollte, sagt sie. Angst vor der Krankheit selbst habe sie nicht. Vor der Impfung aber ebenso wenig. Sie arbeite in einem anthroposophischen Beruf. Da sei die Impfquote ohnehin nicht so hoch, Corona weniger ein Thema. „Jetzt lasse ich mich impfen, um meine Freiheit wiederzubekommen“, sagt sie. Und sei es, weil sie sonst nicht mehr ihre beiden Pferde versorgen kann, die in einem Vereinsstall mit 2G-Regelung untergebracht sind.

Ein paar Schritte weiter vorne steht Jonas Bach. Der 25-Jährige aus Sigmaringen hat das Risiko für sich bisher eher als gering eingeschätzt. „Aber jetzt ist es langsam Zeit“, sagt er. Mit der Impfung wolle er vor allem andere schützen. „Ich dachte lange, es sei nicht so gefährlich“, ergänzt er noch.
Doch nicht alle, die sich jetzt erst impfen lassen, zögern freiwillig. Ester Maute ist 56 und leidet an Rheuma. Sie muss sich ein Mittel spritzen, das sich nicht mit allen Impfstoffen verträgt. Erst nach einigem Hin und Her wurde Biontech für sie empfohlen, sagt sie. Ihre Freundin ist gerade kommen, bringt ihr Tee, damit sie sich etwas aufwärmen kann.

Die Schlange reicht noch immer bis über den halben Parkplatz, immer wieder kommen neue hinzu. Dabei zählt das Impfteam drinnen schon die Dosen, die noch verbleiben. Der Hausmeister wird informiert, er möge jemanden von der Stadt herholen. „Jemand muss den Leuten doch sagen, dass sie nicht mehr alle drankommen werden“, sagt die medizinische Fachkraft zu ihrer Kollegin.
Drittimpfungen machen den Großteil der Impfungen aus

Viele hier sind für eine Drittimpfung da – das wird später auch die Statistik zeigen. Auch Jürgen Rettenberger aus Ostrach nutzt die Impfaktion, der 63-Jährige hätte bei seinem Hausarzt erst Ende Januar einen Termin bekommen. Der Mann gibt an, wenige Antikörper zu haben und das Risiko vor der Weihnachtszeit nicht eingehen zu wollen, sich doch noch anzustecken. „Zwei-Klassen-Gesellschaft? Was heißt das schon? Wir haben ein Luxusproblem“, findet er. Denn der Impfstoff sei ja da. „Ob man sich impfen lässt, das ist eben nicht nur eine persönliche Sache“, so Rettenberger mit Blick auf die hohe Zahl von Ungeimpften in klinischer Behandlung.
Lehrerin Jennifer Henkel sieht das Impfen ebenfalls als geboten: „Ich trage doch eine Verantwortung für die Kinder, die ich unterrichte.“ Die 37-Jährige will sich ebenfalls boostern lassen. Sie hat mehr Chancen, war schon früher da und wartet bereits im Vorraum der Halle.
Thomas Beck ist extra aus Hohentengen gekommen, er wartet schon seit 13 Uhr. Um 16.30 kommt er endlich an die Reihe. „Das ist doch ein Chaos hier“, schimpft er. Die vierte Welle, die sei doch absehbar gewesen. Aber die Impfzentren seien geschlossen worden. „Die da draußen tun mir leid“, fügt er hinzu. „Die werden nicht mehr dran kommen.“
Endlich taucht der Hauptamtsleiter der Stadt Pfullendorf, Simon Klaiber, auf. Er sagt den Menschen draußen, dass der Impfstoff nur noch etwa für 120 Wartende reiche – „in etwa die, die jetzt schon drinnen warten“, erklärt er. In der wartenden Menge werden Proteste laut. „Das kann doch wohl nicht wahr sein“, schimpft jemand – andere stimmen mit ein.
Und auch jene Frau, die sich anfangs über die vermeintliche Impfpflicht echauffierte, schimpft: „Haben Sie das mitbekommen? Wir haben hier Stunden in der Kälte gewartet und jetzt sollen wir nicht mehr dran kommen? Und dafür habe ich einen halben Tag Urlaub genommen!“ Wütend geht sie zurück in die Reihe. Aufgeben will sie offenbar dennoch nicht.
Rheumapatientin Maute dagegen ist den Tränen nahe: „Das ist ein Schlag ins Gesicht“, sagt sie nur. Beim Hausarzt bekomme sie erst im Januar einen Termin. „Das geht mir genauso“, ruft eine Frau hinter ihr.

Fragwürdige Organisation
Am Folgetag übt man sich in Erklärungsversuchen. Die Stadt stellte lediglich die Halle, die Aktion selbst wurde von der Oberschwabenklinik aus koordiniert, erklärt Hauptamtsleiter Klaiber. Trotzdem, betont er, werde man höchstwahrscheinlich bei Folgeterminen im Dezember mit festen Terminen arbeiten, um solche extremen Wartezeiten zu vermeiden. „Allerdings muss man auch sagen, dass wir als Kommunen hier jetzt wieder Aufgaben übernehmen müssen, die so nicht nötig wären, wenn das Land die Impfzentren nicht geschlossen hätte.“
Anruf bei der Oberschwabenklinik. Sprecher Winfried Leiprecht betont: „Der Impfstoff ist nicht ausgegangen, aber die Impfaktion war bis 19 Uhr angesetzt.“ Das Team habe noch eine Stunde drangehängt – „die uns woanders wieder fehlen wird“, erklärt er.
Das Personal kann keine Überstunden mehr anhäufen, es sind schon zu viele in der Pandemie. Und der Arbeitsschutz sitzt der Klinik im Nacken. Mehr Teams stehen noch nicht zur Verfügung, die Klinik muss mit dem Personal arbeiten, das vom Land dafür abgestellt wird. Ein Mangel an Impfstoff gibt es dagegen nicht: Der werde immer ausreichend mitgegeben, betont Leiprecht. „Es wird immer genau kalkuliert, was voraussichtlich verimpft wird.“ Der kalkulierte Bedarf und ein zusätzlicher Puffer seien immer an Bord.
Tatsächlich sei die Impfaktion mit 242 Impfungen eine der erfolgreichsten Aktionen des Impfteams der Klinik bislang. Die Bilanz nach der Impfaktion zeigt aber etwas anderes ganz deutlich: Es wurden demnach 64 Erstimpfungen, 18 Zweitimpfungen, 160 Auffrischungsimpfungen verabreicht. Etwa zwei Drittel also sind Drittimpfungen, nur etwa 25 Prozent Erstimpfungen.
Impfteams eigentlich für Erstimpfungen da
Dabei sollten die Auffrischungsimpfungen primär bei den Hausärzten erfolgen, die Impfteams sollen eher bei der generellen Impfquote für Aufschwung sorgen. „Wir hören immer wieder, dass Drittimpfungen beim Hausarzt erst im Januar möglich seien“, sagt Leiprecht. Auch in Pfullendorf warteten auffallend viele Senioren auf einen Piks.
„Die Nachfrage wird tendenziell noch steigen“, glaubt Leiprecht. Das Land hat inzwischen zusätzliche Impfteams versprochen – bis Monatsende sollen fast doppelt so viele wie bislang unterwegs sein. Dann kann die Klinik mehr Termine anbieten, an mehr Orten. „Aber die Kapazität, die wird nicht steigen an den Einzelterminen“, warnt Leiprecht.
Stehvermögen werden Impfwillige also weiter brauchen, wenn die Impfaktionen weiterhin ohne Terminvergabe laufen. Dabei zeigen Beispiele wie in Tübingen, dass es auch anders geht: Dort gibt es ein Pop-Up-Impfzentrum, in dem Bürger vorab Termine buchen können. Lange Warteschlangen werden so vermieden.