Innerhalb von nur zwei Wochen musste das baden-württembergische Spezialeinsatzkommando (SEK) gleich zwei brenzlige Situationen am Bodensee entschärfen: Im April galt es in Uhldingen-Mühlhofen einen 28-jährigen Mann festzunehmen, der zuvor Passanten und zu Hilfe gerufene Polizisten mit einem Messer und Stichbewegungen bedroht hatte. Selbst Warnschüsse der Polizei und eine Schussverletzung änderten zunächst nichts an seinem aggressiven Auftreten.

Und am 20. März erlebten zahlreiche Zeugen auf der Autofähre von Meersburg nach Konstanz filmreife Szenen: Mehrere unscheinbare Elitepolizisten in Zivil zogen wie aus dem Nichts Sturmhauben über, zückten ihre Pistolen und brachten einen etwa 55-jährigen Mann blitzschnell zu Boden.

Er steht laut Staatsanwaltschaft Konstanz im Verdacht, ein bewaffneter Drogenhändler zu sein, wobei es ausdrücklich um harte Betäubungsmittel geht und mindestens zwei Verhaftungen an unterschiedlichen Orten erfolgten.

Bis heute Rätselraten um Fähren-Einsatz

Während die Behörden über den SEK-Einsatz in Uhldingen-Mühlhofen umfassend informiert haben, sorgt jener auf der Autofähre weiterhin für Rätselraten. Bis heute liegt keine wie sonst übliche Pressemitteilung von Polizei oder Staatsanwaltschaft Konstanz vor und auch telefonische Anfragen werden kaum beantwortet.

Das ungewöhnliche Kommunikationsverhalten der Strafverfolger ist ein möglicher Hinweis darauf, dass es sich um einen größeren Fall handeln könnte, wie zuletzt etwa im Mai 2021 bei den Razzien gegen die kalabrische Mafia in Überlingen, Radolfzell und zahlreichen weiteren Orten.

Zahlreiche Einsatzfahrzeuge parkten am 5. Mai 2021 frühmorgens auf dem Landungsplatz in Überlingen, um eine Anti-Mafia-Razzia im großen ...
Zahlreiche Einsatzfahrzeuge parkten am 5. Mai 2021 frühmorgens auf dem Landungsplatz in Überlingen, um eine Anti-Mafia-Razzia im großen Stil durchzuführen. | Bild: DIA - Direzione Investigativa Antimafia

Deshalb sprach der SÜDKURIER mit dem langjährigen Elitepolizisten und Kriminalbeamten Franz Horst Wimmer. Er war fünf Jahre lang Mitglied eines Spezialeinsatzkommandos (SEK) in Bayern, führte verdeckte Ermittler und leitete mehrere Drogeneinsätze, teilweise mit SEK-Unterstützung.

Bis zu seinem Ruhestand war Wimmer als stellvertretender Kommissariatsleiter in der Drogenfahndung mit Auslandseinsätzen bei Europol, in Spanien und Frankreich tätig.

Schießerei und fünf Kilo Kokain

In 45 Dienstjahren wurde viermal auf ihn geschossen. Seine letzte Schießerei erlebte er 2016 an der deutsch-niederländischen Grenze auf einem Parkplatz vor einem großen Einkaufszentrum, an der auch Spezialkräfte des Zolls beteiligt waren. „Es musste auf ein Fluchtfahrzeug geschossen werden und dabei gab es neun volle Einschläge“, schildert Wimmer.

Die Täter hätten sich nach der Übergabe von fünf Kilo Kokain aufgeteilt. „Die eigentlichen Köpfe saßen im Auto und haben versucht, Einsatzkräfte umzufahren, die die flüchtenden Drogenkuriere stoppen wollten.“ Am Ende konnten alle Tatverdächtigen festgenommen werden. Ähnliche Einsätze habe der Spitzenbeamte viele mitgemacht.

Wie schätzt er den öffentlichkeitswirksamen SEK-Einsatz auf der Autofähre am Bodensee mit einem Städteschnellbus und zahlreichen Zuschauern an Bord ein?

Auf der Fähre zwischen Meersburg und Konstanz griff am 20. März ein SEK zu. Hier ein Archivbild von Anfang des Jahres.
Auf der Fähre zwischen Meersburg und Konstanz griff am 20. März ein SEK zu. Hier ein Archivbild von Anfang des Jahres. | Bild: Louis Keeves

Drei mögliche Auslöser für SEK-Einsatz auf Bodensee-Fähre

„Eine Fähre kann eine sehr gute Location für einen polizeilichen Zugriff sein, weil die Szenerie einfach zu überwachen ist“, sagt Wimmer. Die Enge auf einer Fähre und die vielen Passagiere hätten den Vorteil, dass die SEK-Beamten in Zivil kaum auffallen würden.

„Der Nachteil ist aber, dass man an den festzunehmenden Täter nahe drankommen muss, um Gefährdungen von Unbeteiligten auszuschließen“, sagt der frühere Kriminalhauptkommissar.

Ermittlungen wie jene zum SEK-Einsatz auf der Bodensee-Fähre würden oft über einen langen Zeitraum, manchmal sogar Jahre laufen. „Und dann bekommt man einmal die Möglichkeit zuzugreifen, und tut das, um die polizeilichen Aufgaben zu erfüllen“, sagt Wimmer. Er sieht drei mögliche Szenarien, die den SEK-Einsatz auf der Bodensee-Fähre mitunter ausgelöst haben.

Erstens könnte ein Haftbefehl vorgelegen haben und die Polizei könnte durch einen Tipp oder Überwachungsmaßnahmen erfahren haben, dass sich ein gesuchter Krimineller auf der Fähre befindet. „Wenn man erfährt, dass ein gefährlicher Drogenhändler auf einer Fähre mitfahren wird, dann kann man nicht lange warten und versucht den Haftbefehl zu vollziehen“, sagt Wimmer.

Zweitens könnte ein „Live-Geschäft“ in Form von einer Drogenübergabe stattgefunden haben. Hier seien viele Szenarien möglich. „Ein Fahrzeug mit Ware wird auf die Fähre gefahren, der Fahrer verschwindet und der Täter übernimmt das Auto und fährt weiter“, erklärt der langjährige Rauschgiftfahnder beispielhaft eine mögliche Übergabe.

Teil einer Falle?

Drittens könnten im Vorfeld Verhandlungen zwischen verdeckten Ermittlern und Drogenhändlern als Teil einer möglichen Falle stattgefunden haben. „Mit Drogenhändlern im großen Stil läuft das oft hochkompliziert ab“, so Wimmer.

Diese versuchten Verhandlungsorte zu finden, bei denen sie das Rauschgift nicht selbst in Händen hätten und man ihnen kaum etwas nachweisen könne. Manche Kriminellen würden ihre vermeintlichen Käufer zum Beispiel auch auf Fähren locken, weil sie diese dort gut beobachten könnten – auch, ob eine Observation gegen sie laufe.

„Eine Tätergruppe hat uns als verdeckte Ermittler einmal in einen Freizeitpark zitiert, einfach nur um zu reden“, erzählt Wimmer. „Als uns die Gruppierung in unmittelbarer Nähe zeigte, wo die Drogen lagern, mussten wir zugreifen.“

Der SEK-Zugriff habe damals mitten im Freizeitpark mit hunderten Kindern im Nahbereich stattgefunden. „In vielen Fällen gehen Festnahmen nicht, ohne dass Unbeteiligte in der Nähe sind“, sagt der Ex-SEK-Beamte. Zwischenfälle habe es wie auf der Bodensee-Fähre keine gegeben.

„Auch Straftäter haben menschliche Bedürfnisse“

Bei polizeilichen Zugriffen spiele nicht zuletzt auch das Überraschungsmoment eine entscheidende Rolle. „Täter, die mit Drogen im großen Stil handeln, rechnen immer damit, dass die Polizei auftaucht“, sagt Wimmer. Sie würden versuchen ihre Deals und Übergaben konspirativ anzubahnen und die Situation stets im Griff zu behalten, um nicht überrascht zu werden.

„Aber auch große Straftäter haben menschliche Bedürfnisse. Gehen sie beispielsweise aufs Klo, dann haben wir dafür einen ‚ganz großen Schlüssel‘, genannt Ramme“, erklärt der Profi. Die Tür gehe dann zwar kaputt und die Polizei müsse den Schaden bezahlen. Aber das Überraschungsmoment sei eindeutig aufseiten der Spezialbeamten.

Als Startsignal für einen SEK-Zugriff können verschiedenste Zeichen genutzt werden. „Der Fantasie bei Startsignalen sind keine Grenzen gesetzt. Da lässt sich jeder etwas anderes einfallen“, so der Ex-Kriminalbeamte. Oberste Prämisse sei jedoch stets, Gefährdungen für Unbeteiligte auszuschließen.

Der erfahrene Ermittler beanstandet, dass Teile der Bevölkerung durch das organisierte Verbrechen regelrecht unterwandert würden, bis hin zu Helfershelfern in der Polizei und Justiz. Als Beispiel nennt er den langjährigen Chef-Drogenfahnder bei der Allgäuer Kriminalpolizei in Kempten, der selbst kokainabhängig war und 1,8 Kilo des weißen Pulvers in seinem Dienstschrank hortete. Er wurde 2015 zu 6,5 Jahre Gefängnis verurteilt.

Bodensee-Region beliebt bei organisiertem Verbrechen

Nicht zuletzt wisse das organisierte Verbrechen laut Wimmer genau, wo es relativ frei agieren könne. Gerade in der Grenzregion rund um den Bodensee würden sich Kriminelle bevorzugt festsetzen. „Lindau, Bregenz und Konstanz, das früher ein recht reger Umschlagplatz für Heroin war – da sind wir ganz schnell über Ländergrenzen. Freunde mit Booten am Bodensee sagen mir, dass die Behörden kaum überwachen können, was am See vor sich geht“, sagt der Ex-Drogenfahnder, der regelmäßig in Konstanz weilt.

Zudem sei in ländlich strukturierten Regionen wie dem Bodensee-Raum auch das Risiko für internationale Banden geringer, entdeckt zu werden. „Steht ein Mitglied einer Organisation im Blickpunkt der Polizei, verlässt es das Land, zum Beispiel in Richtung Italien, und der nächste Mann kommt“, so Wimmer.