Es passiert immer wieder. Mal am Ufer, mal an abgelegenen Radwegen, an Friedhöfen, aber auch mitten in der Stadt. Als eine 60-Jährige an einem Nachmittag im Juli auf einem Radweg auf der Höri zwischen Gundholzen und Horn unterwegs war, sah sie einen Mann auf einer Bank, der seinen Penis in der Hand hielt.
Als er die Frau sah, stand er auf, setzte sich auf sein Rad – und fuhr der Frau entgegen. Er kam ihr mit dem Rad nahe, zog seine Tennishose hoch und zeigte ihr noch ein mal sein Glied. Das war in diesem Jahr bereits der vierte Vorfall von Exhibitionismus in der Gemeinde Gaienhofen. Zurück bleiben verstörte Frauen und die Frage: Warum tun Männer das? Und vor allem: Wie gefährlich sind solche Situationen für Frauen?
Viele Taten können aufgeklärt werden
Allein im Landkreis Konstanz wurden in diesem Jahr bisher 13 Fälle von Exhibitionismus bekannt. Die Polizei ermittelt dazu, in zwei Fällen konnte ein Verdächtiger identifiziert werden. Diese beiden kommen für die Vorfälle auf der Höri nicht in Betracht.
Im Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Konstanz gab es im Jahr 2023 74 Fälle von Exhibitionismus, 53 Fälle konnten aufgeklärt werden. 2022 und 2021 gab es jeweils rund 60 Fälle bei etwa 60 Prozent Aufklärungsquote.
Urban Hansen, ein erfahrener Psychiater aus dem Bodenseekreis, leitet die Sexualambulanz in Friedrichshafen und wird häufig von Gerichten als Sachverständiger hinzugezogen.
Er kennt sich mit Exhibitionisten und Menschen, die wegen anderen sexuellen Problemen Hilfe suchen, aus. Er erklärt im Gespräch mit dem SÜDKURIER: Von Exhibitionisten gehe in der Regel keine physische Gefahr aus. Es gebe zwar Ausnahmen, diese seien aber wirklich selten.
Es geht um Macht
Welche Motive haben die Täter dafür? Hansen: „Fragen Sie sich: Welche Botschaft sendet jemand aus, der gerade eine exhibitionistische Handlung unternimmt? Der zeigt, ich bin männlich, ich bin potent, ich habe keine Angst vor dir, ich habe Macht, ich habe Kontrolle, ich kann deine Grenzen verletzen, ich halte mich nicht an eure Regeln.“
Hier sucht jemand durch die Entblößung seiner Genitalien in einer bewusst provozierenden, sozial nicht akzeptablen Form nach Selbstbestätigung. Das gelinge aus der Sicht der Täter am besten, wenn beim Gegenüber starke Reaktionen wie Angst, Ekel und Schrecken ausgelöst werden.
Das weise auch auf eine häufige Motivationslage hin: Sie haben oftmals tiefe Unsicherheiten, was die eigene männliche Identität angehe. „Da geht es um das Gefühl, eigentlich keine Kontrolle im Leben zu haben.“
„Ein später Triumph“
Häufig lägen bei Exhibitionisten traumatische Erfahrungen wie Vernachlässigung oder Missbrauch in der Kindheit vor. Die Männer haben oft selbst viel Ohnmacht, Herabwürdigungen oder Demütigungen erlebt. „Man könnte im Prinzip sagen: Es ist so wie eine Demonstration von einem späten Triumph über negative Erfahrungen, die man als Kind oder Jugendlicher gemacht hat“, sagt Hansen.
Exhibitionismus könne in allen Altersgruppen und Bildungsschichten auftreten. Einen Häufigkeitsgipfel gebe es bei Männern in der späten Adoleszenz, also Männern zwischen 25 und 35 Jahren. Exhibitionisten haben oft bevorzugte Opfergruppen: Die meisten suchten gezielt weibliche Jugendliche und junge Frauen auf, einige aber auch Kinder, wieder andere eher ältere Damen.
Den Taten gehen innere Prozesse voraus: Aus ersten Gedanken, einer inneren Unruhe entstehen lebhaftere Fantasien, diese steigern das Verlangen, das jetzt umzusetzen. Wenn der Drang zu groß wird und die inneren Kontrollmechanismen versagen, kommt es schließlich zur Tat.
Der Lustgewinn liege laut Hansen nicht nur im „Kick“ am Tatort selbst, sondern auch nach einer exhibitionistischen Tat, wenn man die Szene im stillen Kämmerlein bei der Selbstbefriedigung wieder durchlebt.
Hohe Rückfallquote
Die Rückfallquote ist laut Hansen ziemlich hoch, zumindest bei denen, die sich mehr als einmal entblößen. Hansen sagt: Mehr als die Hälfte aller Exhibitionisten begehe die Tat nur einmal. Diese einmaligen Verfehlungen entstünden oft aus schwierigen Lebenssituationen. Bei Ersttätern reiche die Abschreckung durch das Strafverfahren und Beratung oftmals aus, um Rückfälle zu vermeiden.
Bei Wiederholungstätern sei eine sexualpsychiatrische Behandlung aber sinnvoll, um das Verhalten zu verändern. Exhibitionisten hätten häufig auch andere paraphile Neigungen, also abweichende sexuelle Vorlieben, oder psychische Erkrankungen wie Suchterkrankungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen. „Es ist immer ein Gesamtpaket, was man in der Therapie angucken muss.“
Wie verhält man sich?
Hansen rät, bei einer Begegnung mit einem Exhibitionisten Ruhe zu bewahren, nicht zu provozieren oder zu verhöhnen. Man solle ihnen keine besondere Aufmerksamkeit schenken, aber auch nicht zwanghaft wegschauen.
Man kann ankündigen, die Polizei zu rufen, und sich Details der Person merken, die den Ermittlern helfen. Dazu rät auch die Polizei. Ebenso wie andere Personen darauf aufmerksam zu machen und um Hilfe zu bitten, so wie ein Foto zu machen, wenn es möglich ist. Und natürlich: Die Polizei auch zu verständigen.