Wie viele es sind, weiß nicht einmal das für Migration zuständige Justizministerium in Stuttgart. Schätzungen von Ende März zufolge sollen bereits mehr als 35.000 Ukrainer in den Südwesten Deutschlands geflohen sein. Viele wollen wieder zurück, doch so lange in der Ukraine der Krieg tobt, besteht darauf keine Aussicht. Wie also können sie hierzulande integriert werden und eine Arbeit finden?

Die größte Hürde liegt wohl bei den Behörden. Denn auch, wenn Ukrainer visafrei einreisen dürfen, brauchen sie einen Aufenthaltstitel, um in Deutschland eine Stelle anzutreten. So sieht es Paragraf 24 der Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz vor: Eine Erwerbstätigkeit muss von der Ausländerbehörde erlaubt werden. Formal geschieht dies mit einem Eintrag im Aufenthaltstitel. Ob der Vielzahl der Anfragen haben die Behörden allerdings eine Menge zu tun. Das zeiht die Verfahren in die Länge.

Arbeit am Bodensee

Das bekommen auch Hoteliers zu spüren. Alice Mittl zum Beispiel. Die Geschäftsführerin des Hotels Seeterrasse in Langenargen hat Marharyta Savina, Yuliia Yermonava und ihre Schwester Iryna Oskalenko aus der Ukraine zu sich geholt, teils hatten sie schon früher bei der Hotel-Managerin gearbeitet – als Studentinnen in den Semesterferien. Zwei Kinder sind auch dabei. Mittl wollte helfen und kontaktierte ihre früheren Aushilfen.

Die drei Flüchtlinge aus der Ukraine Marharyty Sevina (v.l), Yuliia Yermonava und Iryna Oskalenko sitzen vor dem Hotel Seeterrasse am ...
Die drei Flüchtlinge aus der Ukraine Marharyty Sevina (v.l), Yuliia Yermonava und Iryna Oskalenko sitzen vor dem Hotel Seeterrasse am Ufer des Bodensees. Sie wollen hier als Aushilfen arbeiten, so lange in ihrer Heimat Krieg herrscht. | Bild: Felix Kästle

Savina saß gerade an ihrer Diplomarbeit – aber das Unisystem in der Ukraine ist zusammengebrochen. Deshalb hat sie sich entschlossen, Kiew zu verlassen. „Ihr Leben kann nicht mehr stattfinden“, sagt Mittl. „Sie wissen einfach nicht, wie es weitergeht, selbst wenn der Krieg bald endet: Steht das Haus noch, lebt die Verwandtschaft noch?“

Die drei Frauen sollten eigentlich zum Ostergeschäft einsteigen und ein wenig mithelfen, wenn das Hotel wieder öffnet, „aber nicht als Vollzeitstelle“. Vieles hänge auch davon ab, ob die Kinder betreut werden könnten und auch, wie die Saison anläuft. Noch allerdings warten sie auf ihre Arbeitsgenehmigung. „Eine hat schon eine“, so Mittl. „Da war ich überrascht, dass die so schnell kam“, sagt die Geschäftsführerin.

Viele Frauen und Kinder

Die meisten der Geflüchteten sind wie die Ukrainer in Langenargen Frauen und Kinder, wehrfähige Männer durften die Ukraine nicht verlassen. Die Betreuung der Kinder in Kitas und Schulen muss geregelt werden, oftmals sind Eltern und Kinder von der plötzlichen Flucht vor der russischen Invasion traumatisiert.

Psychologische Betreuung wird gebraucht, „bevor sich die Frage nach einer Beschäftigung überhaupt stellt“, glaubt deshalb der Hauptgeschäftsführer der IHK Hochrhein-Bodensee, Claudius Marx.

Hotelbesitzerin Alice Mittl (v.l) und die Flüchtlinge aus der Ukraine, Marharyty Sevina, Yuliia Yermonava und Iryna Oskalenko, sitzen ...
Hotelbesitzerin Alice Mittl (v.l) und die Flüchtlinge aus der Ukraine, Marharyty Sevina, Yuliia Yermonava und Iryna Oskalenko, sitzen auf der Terrasse des Hotels Seeterrasse am Ufer des Bodensees. | Bild: Felix Kästle

Hinzu kommen oft fehlende Deutschkenntnisse. Im Fall von Mittls Angestellten ist das nicht so: Zwei der drei Frauen hatten schon als Studentinnen mehrere Monate bei ihr gearbeitet und können Deutsch. Oskalenko spricht Englisch, ein Azubi könnte beim Übersetzen helfen, so Mittl. Grundsätzlich können Ukrainer kostenlos Berufssprachkurse besuchen.

Zuständig sind in der Regel die Landratsämter. Die Frauen bei Mittl müssten dafür voraussichtlich nach Friedrichshafen. „Das Problem ist, an Plätze zu kommen“, sagt Mittl. Die drei Frauen stehen aber schon auf einer Warteliste. „So schnell können das die Gemeinden gar nicht organisieren“, ergänzt die Hotelbesitzerin.

Anerkennung von Berufsabschlüssen fehlt

Neben der Sprachbarriere fehlt bislang aber auch die Anerkennung der ukrainischen Berufsabschlüsse. „Wir dürfen nicht die gleichen Fehler machen wie 2015“, mahnt Marx von der IHK und hofft auf zügige Prozesse. Der entsprechende Verfahren läuft zentral über die Anerkennungseinrichtung der deutschen Industrie- und Handelskammern (IHK Foreign Skills Approval) in Nürnberg.

Ein weiterer Aspekt könnte bei Arbeitgebern in der Region für Zurückhaltung sorgen. „Diese Geflüchteten sind nicht gekommen, um zu bleiben. Es kann deshalb nicht unser Ziel sein, sie für den hiesigen Arbeitsmarkt und einen dauerhaften Verbleib gewissermaßen „abzuwerben“, gibt Marx zu bedenken.

Ein Vorteil für den deutschen Arbeitsmarkt dürfte aber das im internationalen Vergleich hohe Bildungsniveau der Ukrainer sein, wie ein aktueller Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) belegt. Etwa die Hälfte der bisherigen Migranten aus der Ukraine verfügte demnach über einen Hochschulabschluss, 14 Prozent wiesen eine abgeschlossene Ausbildung vor, weitere 26 Prozent eine höhere Schulbildung.

Fachkräftemangel in der Region groß

Der Bedarf an Fachkräften in vielen Branchen in der Region ist jedenfalls groß. Während der Pandemie haben insbesondere in der Gastronomie- und Tourismusbranche einige Beschäftigte umgeschult. Ausbildungsplätze wurden zum Teil zurückgefahren, was den Fachkräftemangel mittelfristig noch verschärfen dürfte, schätzt Marx.

Schon jetzt seien mehr als 50 Prozent der Betriebe im Bereich Hochrhein-Bodensee im Dienstleistungssektor, zu dem auch Tourismus und Gastronomie, aber auch die Logistikbranche zählen, davon betroffen. Auch in der Region Bodensee-Oberschwaben melden vor allem die Bereiche Gastronomie, Logistik und Einzelhandel einen erhöhten Fachkräftebedarf, wie die IHK mitteilt.

Viele Jobs in Gastronomie und Hotellerie

Die Dehoga Baden-Württemberg bestätigt das: Derzeit werden in praktisch allen Bereichen der Hotellerie und Gastronomie Mitarbeiter gesucht, sowohl gelernte Fachkräfte als auch ungelernte Hilfskräfte, erklärt Sprecher Daniel Ohl. Zwar seien im Service Deutschkenntnisse zwingende Voraussetzung, in anderen Bereichen gebe es aber genügend Einsatzmöglichkeiten, ohne Deutsch zu beherrschen.

Mittl vom Hotel Seeterrasse sieht das ein wenig anders. „Das sind ja keine gelernten Fachkräfte, sondern Aushilfskräfte.“ Die Mitarbeiterprobleme, die auch das Hotel trifft, werden Ukrainer aus ihrer Sicht nicht lösen können.

Im Sommer braucht sie zwar saisonale Aushilfskräften, aber aktuell könne sie keine Leute zusätzlich beschäftigen. Zwei ukrainische Azubis arbeiten seit vergangenem Jahr bei ihr – „das ist etwas anderes“. „Ob sie langfristig hierbleiben, Abschlüsse anerkannt werden, sich hier etwas Neues aufzubauen, das muss sich zeigen.“

Industrie hat großen Bedarf

Wie aber sieht es in der Industrie aus? Während sich der Sanitärhersteller Geberit in Pfullendorf auf die Anfrage des SÜDKURIER verschlossen zeigt, sieht das Stühlinger Unternehmen Sto, das Farben, Baustoffe und Wärmedämmungen herstellt, durchaus Integrationsmöglichkeiten. Schon in der Vergangenheit habe man Geflüchteten „Einsatzmöglichkeiten angeboten“, so Sprecher Konstantin Korosides. „Der Einsatz von Menschen ohne fundierte Deutschkenntnisse ist vor allem in Produktion- und Logistikbereichen denkbar“, ergänzt er mit Blick auf ukrainische Flüchtlinge.

Ein Sprecher des Autoteile-Zulieferers ZF in Friedrichshafen sagt dem SÜDKURIER: „Wir arbeiten derzeit an Optionen, wie wir diese Hilfen um passende Arbeitsplatzangebote erweitern können – wobei wir die Menschen, die wegen des Krieges zu uns kommen, in erster Linie als schutzbedürftige Menschen und nicht als Arbeitskraft sehen.“ Der Sprecher ergänzte aber: „Wenn es ihnen hilft, materiell versorgt und für einige Stunden am Tag von den Sorgen abgelenkt zu sein, helfen wir gerne auch mit Arbeitsangeboten.“

Bei Rolls-Royce Power Systems in Friedrichshafen seien derzeit 200 Stellen offen, „vor allem in Forschung und Entwicklung für Elektrotechnik, Elektronik, Chemie, T-Hard- und Software oder Verfahrenstechnik“, so Sprecher Wolfgang Boller.

Das könnte Sie auch interessieren

Zudem seien einige Stellen für gut ausgebildete Facharbeiter in der Produktion frei. Grundsätzlich sei es auch denkbar, Ukrainern Jobs anzubieten, je nach fachlicher und sprachlicher Qualifikation. Zudem spiele die Frage eine Rolle, wie lange die Menschen bleiben werden. Boller sagt, man nehme an, „dass viele so schnell wie möglich in ihre Heimat zurückkehren möchten.“

Die drei Frauen im Hotel Seeterrasse können ihre Zukunft noch nicht absehen. Oskalenko und ihre Kinder wollen auf jeden Fall zurück in die Ukraine, wo der Vater zurückbleiben musste. Wann das sein wird, weiß niemand. „Es kann sich ja alles von heute auf morgen ändern“, so Mittl. Aber so lange sie hier sind, wollen sie die Zeit sinnvoll nutzen, ihren Beitrag leisten.