Wer an diesem sonnigen Spätsommertag durch den Radolfzeller Ortsteil Böhringen läuft, dem fällt zunächst einmal nichts Besonderes auf. Es ist ruhig in dem Wohngebiet rund um die evangelische Kirche, nur ab und an fährt ein Auto vorbei. Erst, wenn man nach oben schaut, fallen sie auf: Storchennester, auf den Dächern, in den Bäumen. Auf dem Kirchendach sind es gleich drei, in manchen Bäumen verstecken sich vier oder fünf Horste.

In diesem Baum finden sich gleich mehrere Storchennester.
In diesem Baum finden sich gleich mehrere Storchennester. | Bild: Nathalie Metzel

Die Diskussion über zu viele Störche in Hohenfels (Landkreis Konstanz) war bundesweit in den Schlagzeilen gewesen. Der dortige Bürgermeister Florian Zindeler hatte vor einigen Wochen gesagt, dass die geschützten Vögel in Hohenfels zu einem Problem werden könnten.  „Die Stimmung droht allmählich zu kippen, wenn es nicht schon zu spät ist“, so Zindeler. Jedes Jahr würden neue Nester entstehen, die Störche würden im Sommer auf den Dächern sitzen. Nicht nur der Kot und das Geklapper seien ein Problem: Die Tiere würden etwa Frösche und Mäuse in „unglaublicher Menge“ fressen.

Wie geht man in Böhringen mit den Tieren um?

Zahl der Störche ist stark gestiegen

In den 1970er-Jahren galten die Weißstörche in Baden-Württemberg fast als ausgestorben. 1975 gab es laut Naturschutzbund (Nabu) Baden-Württemberg gerade einmal 15 Brutpaare im Land. Das hat sich geändert: 2023 zählte der Nabu 2250 brütende Storchenpaare.

Ein Böhringer Storchenpaar hat sich auf einem Kran niedergelassen. (Archivbild)
Ein Böhringer Storchenpaar hat sich auf einem Kran niedergelassen. (Archivbild) | Bild: Gerald Jarausch

„Immer mehr Störche überwintern aufgrund milder Winter durch den Klimawandel bei uns, etwa in Oberschwaben“, sagt eine Nabu-Sprecherin. Durch weniger Schnee würden sie ausreichend Nahrung in Form von Mäusen, Regenwürmern und kleinen Fischen finden. Andere Tiere fliegen nicht mehr in ihre Überwinterungsquartiere in Afrika, sondern bleiben in Spanien, etwa auf Müllkippen. Die Zahl der Störche sei daher gestiegen.

In Böhringen leben mehr als 100 Störche

In Böhringen befindet sich eine der größten deutschen Storchenkolonien: 55 Brutpaare leben dort, ihre Horste sind über das gesamte Dorf verteilt. Vergleichbar große Kolonien gibt es nur in wenigen anderen deutschen Dörfern. Der erste Storch wurde in den 1980er-Jahren in Böhringen gesichtet, inzwischen sind es mehr als 100.

Daher werden in dem Dorf nicht mehr alle Störche mit einem Sender ausgestattet, sagt Ornithologe Wolfgang Fiedler: „Das ist einfach nicht mehr nötig. Eine kleine Stichprobe reicht aus.“ Am Max-Planck-Institut in Radolfzell wertet er die Daten der Störche aus. Durch die Sender wisse man, dass die Böhringer Störche über den Winter weiterhin Richtung Spanien und Afrika fliegen, so Fiedler.

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Böhringer Storchenvater kümmert sich um Tiere

An diesem Septembertag sucht man die Störche vergebens. „Heute wird man keinen einzigen Storch in Böhringen sehen“, sagt Wolfgang Schäfle. Sie seien alle bereits unterwegs zu ihrem Winterquartier.

Schäfle ist in der Region als Böhringer Storchenvater bekannt. Mehr als 40 Jahre lang engagierte er sich ehrenamtlich für die Böhringer Störche. Inzwischen, mit 86 Jahren, ist Schluss. Sein Wissen über die Störche ist aber immer noch einzigartig. „Das erste Nest haben die Störche 1983 auf unserem neu gebauten Haus gebaut“, erinnert er sich.

Koloniebildung in Böhringen war Zufall

Warum sich die Störche ausgerechnet in Böhringen wohlfühlen, kann Schäfle nicht genau sagen. „Störche machen das, was sie wollen“, sagt er und lacht. Ob sich die Vögel an einem Ort ansiedeln, könne man nicht beeinflussen. Das bestätigt Ornithologe Fiedler: „Das war vermutlich Zufall.“ In Böhringen gebe es durch das angrenzende Ried allerdings eine große Nahrungsquelle.

Auf dem Turm der evangelischen Kirche wurde eine Kamera angebracht, über die das mittlere Nest beobachtet werden kann.
Auf dem Turm der evangelischen Kirche wurde eine Kamera angebracht, über die das mittlere Nest beobachtet werden kann. | Bild: Nathalie Metzel

Wolfgang Schäfle kümmerte sich jahrelang ehrenamtlich um die Störche. Über Jahrzehnte wurde er angerufen, wenn einer der Vögel in einen Unfall verwickelt war, er päppelte sie auf oder brachte sie ins Tierheim. Außerdem beringte er die Jungstörche und übermittelte die Daten an das Max-Planck-Institut.

Und er baute Nisthilfen für die Böhringer Störche. Ein Storchennest wiegt mehrere hundert Kilogramm, es kann bis zu einer Tonne schwer werden. „Die Störche kommen im Frühling zurück zu ihren Nestern und bauen daran weiter“, erklärt Schäfle.

Für einige Horste wurden in Böhringen Nisthilfen gebaut.
Für einige Horste wurden in Böhringen Nisthilfen gebaut. | Bild: Nathalie Metzel

Böhringer freuen sich über Störche

In den vergangenen Jahrzehnten sei es auch schon vorgekommen, dass sich Nester an Stellen fanden, an denen Hausbesitzer sie eigentlich nicht haben wollten: auf Schornsteinen etwa. Wenn ein Horst umgesiedelt werden soll, muss das die höhere Naturschutzbehörde des Regierungspräsidiums Freiburg entscheiden.

Schäfle zufolge stört sich der überwiegende Teil der Böhringer nicht an den Tieren. „Viele sind stolz, wenn im Sommer Gäste kommen und fragen: Was ist denn hier los?“ Denn ein Storchenpaar brütet zwischen drei und fünf Eiern im Jahr. Entsprechend viele Störche sind dann in Böhringen zu sehen.

Vier Jungstörche in einem Nest auf der katholischen Kirche in Böhringen. (Archivbild)
Vier Jungstörche in einem Nest auf der katholischen Kirche in Böhringen. (Archivbild) | Bild: Hanspeter Wickert

Regen wäscht den Kot von den Dächern

„Lärm verursachen die Jungvögel nicht“, sagt Schäfle. Das typische Geklapper stammt von den Eltern: Kommen die Störche etwa an das Nest zurück, begrüßen sie sich mit Klappern. „Laut ist das nicht“, findet er. Und der Kot? „Den wäscht der Regen von den Dächern. Das macht dem Dach gar nichts aus“, sagt Schäfle und zeigt auf die Häuser, in deren Nähe sich Storchennester befinden. Tatsächlich ist zur Winterpause kein einziges Dach mehr mit Kot beschmutzt.

Die Aufregung in Hohenfels kann Schäfle daher nicht verstehen. „Das waren Jungstörche, die sich dort für den Flug gesammelt haben“, sagt er. „Sie bleiben für maximal ein bis zwei Tage, dann sind sie wieder weg.“

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Eine Sprecherin des Nabu Baden-Württemberg bestätigt das. „Wenn es zu Ansammlungen vieler Störche auf einer Fläche kommt, so wie in Hohenfels, liegt das meist daran, dass sie dort viel Nahrung finden.“ In Hohenfels sei eine Riedfläche abgemäht worden, dabei seien viele Insekten und andere Kleintiere gestorben, die die Störche aufgesammelt hätten.

Wie viele Störche sind zu viele?

Kann es denn zu viele Störche für ein Dorf geben? „Nein“, findet Wolfgang Schäfle. „Die Natur reguliert sich selbst.“ Wenn es zu wenig Nahrung für die Störche gebe, dann würden sie eben weiterfliegen. Auch Ornithologe Wolfgang Fiedler sagt, dass es aus biologischer Sicht nie zu viele Tiere geben wird. Wenn Jungstörche verhungern, liege das meist an der Witterung – weil es entweder zu trocken oder zu nass ist, um Nahrung zu finden.

Laut Nabu besteht außerdem keine Gefahr, dass die Störche alle Frösche wegfuttern. Die Zahl der Amphibien sei seit Jahren rückläufig, da die Tiere ihren Lebensraum verlieren würden. „Hier sehen wir keinen Zusammenhang zu den Weißstörchen.“

Konflikte mit Menschen kann es dennoch geben, wenn diese sich durch die Störche belästigt fühlen. Der Storch gilt weiterhin als streng geschützte Vogelart, vom Aussterben ist er aber nicht mehr bedroht. Wie man damit umgeht, wenn ein Naturschutzprojekt erfolgreich verläuft, dafür gibt es laut Wolfgang Fiedler noch keinen einheitlichen Standard.