Nein, Tim Raue und Konstanz – das wird wahrscheinlich nicht mehr die große Liebe. Muss es ja auch nicht. Der Starkoch gibt sich auch keine Mühe, seine durchaus kritische Haltung gegenüber der größten Stadt am Bodensee und so manchem ihrer Bewohner zu verbergen – dafür hat er zu viel mitgemacht in seinem Leben. Und dafür sei er als „grundehrlicher Mensch, der immer sagt, was er denkt“, wie er es ausdrückt, nicht geeignet.
„Ich würde mir wünschen, dass die Konstanzer ein bisschen offener wären für die Kulinarik, die Spaß macht. Ich habe in Konstanz immer so ein bisschen das Gefühl, dass man sich gerne woanders verlustiert, aber zuhause sehr kritisch ist“, sagte er kürzlich im Interview mit dem SÜDKURIER. „Es würde mich freuen, wenn die Konstanzer das, was sie haben, mehr feiern. Sei es den Dirk Hoberg im Ophelia, sei es Jari Dochat oder auch unser Colette. Da kommen viele Gäste von außerhalb, aber die Einheimischen, die können da noch ein wenig nachlegen, so wie wir das an anderen Standorten kennen.“
Dieser Tage bat er in die Brasserie Colette Tim Raue. Er ist nicht nur Namensgeber, sondern auch der kulinarische Berater, der Mann, der das mehrmals im Jahr wechselnde Menü vorgibt. Dreimal war er im Jahr 2023 schon in der Stadt. Regelmäßig gibt er sich im Colette selbst die Ehre und verzaubert seine Gäste in mehreren Gängen. Seine zwei Michelin-Sterne schimmern dann in dem historischen Gebäude in der Brotlaube – auch wenn das Colette selbst keine Sterne hat.
„Sonst habe ich mich nicht immer in Konstanz willkommen gefühlt“
„Sonst habe ich mich nicht immer in Konstanz willkommen gefühlt. Das lag bisher an den Gästen“, verrät er übers Mikrofon den Menschen in den ausgebuchten Speisesälen der Brasserie. „Heute aber sind fantastische Gäste hier. Das habe ich so noch nie gesehen in Konstanz.“ Na also, geht doch. Außerdem liebt er nach eigener Aussage die Mitarbeiter des Hauses. „Das sind fantastische Menschen, die ihre Arbeit außerordentlich gut machen. Bessere Mitarbeiter kann sich so ein Restaurant nicht vorstellen.“
Die Gäste zahlen 199 Euro für ein formidables Fünf-Gänge-Menü mit exklusiver Weinbegleitung – und dürfen lernen, dass das, was auf der Karte steht, nicht immer das halten muss, was es verspricht. Und das im positiven Sinn.
Auf den ersten Blick sind Loup de Mer, Kalbsries, Rinderfilet oder Erdbeeren zwar zweifelsohne Delikatessen – aber von einem der weltbesten Köche erwartet man, so die einhellige Meinung einiger Gäste des Abends, mehr Schnick-Schnack und noch ausgefallenere Gerichte. Dabei wurde dann charmant vergessen, dass das Menü zwar für ein Gourmet-Restaurant gedacht ist, jedoch nicht für ein Zwei-Sterne-Haus, bei dem Pinzetten und Reagenzglas statt Kochlöffel und Schneebesen regieren. Der Namensgeber hat die zwei Sterne in seinem eigenen Restaurant in Berlin erkocht und nicht für das Colette.
„Ich möchte, dass sie bei der Schwertmuschel die Augen schließen und sich im Urlaub fühlen“, lautet einer seiner Aufträge an die sichtlich beeindruckten Gäste, die gerne tun, wie ihnen geheißen, und somit „die tanzende Salzigkeit auf dem Gaumen“ spüren, wie der Großmeister blumig sagt.
Tim Raue möchte Klassisches neu kreieren – was ihm eindrucksvoll gelingt. Den Loup de Mer garniert er mit Kügelchen von der Wassermelone, mit einer Creme vom Schafskäse Brin d‘Amour sowie angebratenen Tranchen einer Merguez, der französischen Kräuter-Wurst mit Wurzeln in Nordafrika.
„Das Spiel der Aromen ist wild und erinnert an eine unvergessliche Nacht“, so der Meisterkoch, dessen Restaurant „Tim Raue“ in Berlin in der offiziellen Liste „World‘s 50 Best Restaurants“ auf dem 40. Platz steht und demnach das beste deutsche Lokal ist.
Des deutschen Lieblingsfleischstück darf nicht fehlen
Das Kalbbsries, der Thymusdrüse des jungen Rinds, verantwortlich für die Immunabwehr und das Wachstum des Tieres, ist perfekt geschmort. „Das steht für die Philosophie, alles vom Tier zu verwenden“, erzählt er. „Das Bries ist das teuerste Stück vom Kalb und sehr aufwendig zu garen.“ Seine Zubereitung mit Pfifferlingen und einem feinen Rotwein-Jus aus einem Cote de Jura hat vielleicht am meisten französischen Charakter aller Gerichte am Abend.
Des Deutschen Lieblingsfleischstück darf auch nicht fehlen – das Rinderfilet. Tim Raue interpretiert es ebenfalls französisch und veredelt es mit einem Ochsenschwanzcroissant, Entenleber und Perlzwiebeln.
Aus dem Dessert spricht Tim Raues Melancholie, seine Erinnerungen an schöne Kindheitstage. „Ich habe Erdbeeren geliebt“, erklärt er, „und diese Liebe hat nie aufgehört.“ Er kitzelt das Aroma der Früchte mit Kefir, Meersalz und Basilikum hervor – und als der letzte Biss im Mund verschwindet, blickt man im Colette angesichts dieser kunterbunten und faszinierenden Melange in lauter glückliche Gesichter.
Noch bevor die Teller abgeräumt sind, ist Tim Raue auch schon wieder verschwunden aus Konstanz. Ein Hotel am Flughafen Zürich und der frühe Rückflug in die Hauptstadt am nächsten Morgen warten. Am Tag des Events kam er auch erst am Morgen via Stuttgart aus Berlin an den See.
Den Nachmittag verbringt er bei Jari Dochat in den Anglerstuben – als der Konstanzer 2022 die TV-Show „The Taste“ gewann, saß Tim Raue in der Jury. Der äußerliche Anblick des Restaurants in der Reichenaustraße hat es Tim Raue offenbar nicht angetan. „Von außen ist es unvorstellbar, dass das so gut ist“, sagt er und lacht.
Die große Liebe zwischen Konstanz und Tim Raue muss es ja nicht sein. Immerhin: Ein großer Schritt der Annäherung wurde in dieser Woche vollzogen. Wie heißt es so schön: Was sich liebt, das neckt sich. So lange der Meisterkoch regelmäßig seine Gäste kulinarisch in eine andere Welt zaubert und dabei seine Liebe zu markigen Sprüchen pflegt, ist alles gut.