Es passiert während eines Elternabends. Tina Gutemann will nur kurz über die anstehende Skifreizeit informieren, als sie das plötzliche Gefühl verspürt, einen Schlag in den Nacken zu bekommen. „Ich wurde unkonzentriert, habe das Programm aber noch vorgestellt“, erinnert sich die Rektorin der Frickinger Grundschule an den 12. Oktober 2023. Trotz einsetzender starker Kopfschmerzen wechselt sie noch in die Parallelklasse. Dort habe ein Vater geniest – worauf sie mit „Guten Appetit!“ reagierte. „Ich habe gemerkt, dass das falsch war, aber ich wusste manche Wörter nicht mehr“, sagt die heute 47-Jährige. „Honig im Kopf“ benennt sie den Zustand, der sie noch länger begleiten sollte.
Diagnose in der Notaufnahme
Zu Hause geht es Tina Gutemann zunehmend schlechter: Die unerträglichen Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen lassen sie nachts schließlich den Notruf wählen. „Sie rufen an wegen Kopfweh?!“, sei sie gefragt worden. In der Notaufnahme habe es eine Weile gedauert, bis ein Arzt die richtigen Schlüsse zog: Die Untersuchung im MRT bestätigte seine Vermutung einer Hirnblutung. „Ich habe gefragt, ob es was Schlimmes ist, aber der Arzt hat nur weggeschaut“, erzählt die Schulleiterin.
Dann sei alles ganz schnell gegangen: Mit Blaulicht in die Klinik nach Ravensburg, da eine Operation im Raum stand. Mittels einer Angiografie, einer Sonde über die Leiste bis ins Gehirn, habe man erkannt, dass es sich um eine Subarachnoidalblutung handelte. „Es ist einfach eine Arterie geplatzt und es war nur wenig Blut und an einer Stelle, wo das Ausmaß nicht so schlimm war“, gibt Tina Gutemann die Diagnose in eigenen Worten wider – laut den Ärzten die „beste Variante“ einer Hirnblutung.
„Beste Variante“ – und trotzdem lebensgefährlich
Bei einer Subarachnoidalblutung tritt aus den Hirnarterien Blut in den Bereich zwischen der inneren und der mittleren Hirnhaut aus, erklärt Mirijam Geiger-Riess. Die Psychologische Psychotherapeutin und Klinische Neuropsychologin betreut Betroffene in ihrer Überlinger Praxis im Rahmen der Nachsorge. „Da die Hirnhäute sehr schmerzempfindlich sind und durch die Blutung gereizt werden, ist das Hauptsymptom einer Subarachnoidalblutung ein plötzlicher, sehr starker Kopfschmerz, neben Übelkeit und Erbrechen, einem steifen Nacken, gegebenenfalls auch einer Veränderung des Bewusstseins bis hin zur Ohnmacht“, schildert sie. Dieser unvergleichlich starke Schmerz werde auch als „Vernichtungsschmerz“ bezeichnet.

Wie sich das anfühlt, hat Tina Gutemann nicht vergessen: „Es gibt eine Palette an Opiaten und wir haben alles ausprobiert.“ Nach ein paar Tagen sei sie dann mit Narkosemitteln ruhiggestellt worden. Eine Operation sei zwar nicht notwendig gewesen, aber das Gehirn entwickle Spasmen, um das Blut loszuwerden. „Ich habe nur gedämmert, den Schmerz ausgehalten und erbrochen“, blickt die 47-Jährige zurück. „Das überleben nur 50 Prozent, die Leute sterben neben einem.“ Mirijam Geiger-Riess bestätigt diese Zahl: Obwohl es sich um eine Blutung außerhalb des eigentlichen Gehirns handle, entstehe aufgrund des Platzmangels ein erhöhter Hirndruck, was lebensgefährlich sei und einer sofortigen Behandlung bedürfe.
Zustand zwischen Leben und Tod
Die Zeit im Krankenhaus hat Tina Gutemann in zwiespältiger Erinnerung. „Ich war ein kompletter Pflegefall“, offenbart sie, durch die Medikamente habe sie zudem Halluzinationen und Nahtoderfahrungen gehabt. „Ich wusste nur, dass ich lebe, weil ich mit der Zunge an den Zähnen entlanggefahren bin.“ Ihr Schicksal nahm sie dabei demütig an: „Wenn ich sterbe, sterbe ich halt“, habe sie gedacht. „Klar, ich wollte es nicht, aber ich hätte es komplett akzeptiert.“
Mithilfe des Pflegeteams kämpfte sie sich aber ins Leben zurück: „Ich wurde da so liebevoll gepflegt und sie haben mir geholfen, die schlimmste Zeit durchzustehen“, erinnert sich die 47-Jährige. „Sie sind einfach ein Glückspilz“, habe ein Arzt auf Intensiv zu ihr gesagt und beim Pflegepersonal galt sie als „unser bestes Pferd im Stall“. Als sie es endlich auf die Bettkante geschafft habe, habe ihr das Personal die Haare gekämmt, „damit ich mich mal wieder als Mensch fühle“.
„Ich wusste nur, dass ich lebe, weil ich mit der Zunge an den Zähnen entlanggefahren bin.“Tina Gutemann, Schulleiterin in Frickingen
Schicksale der Mitpatienten als Motivator
Der Antritt der Reha sei für sie jedoch ein Schock gewesen, sagt Tina Gutemann. Angesichts der schwerbehinderten Menschen nach Hirntumor, Multipler Sklerose oder Schlaganfall habe sie sich geschworen: „Das ist nicht das Leben, das ich haben möchte.“ Die ständige Konfrontation damit habe sie darin bestärkt, vorzeitig nach Hause zu gehen. „Das war nicht das positive Umfeld, das mir gutgetan hätte“, begründet die 47-Jährige. Somit stellt sie sich zu Hause ihr eigenes umfassendes Reha-Programm auf die Beine, um ihre Konzentration und ihre körperliche Fitness zu trainieren. „Das habe ich mit meinem Honig im Kopf organisiert“, meint sie schmunzelnd.

Laut Mirijam Geiger-Riess sind bei der Therapie von motorischen und geistigen Beeinträchtigungen Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Neuropsychologie besonders bedeutsam. Da 50 Prozent der Überlebenden Spätfolgen wie halbseitige Lähmungen von Armen und Beinen, Koordinationsstörungen oder geistige Beeinträchtigungen davontrügen, sei das intensive Beüben der Schwierigkeiten wichtig. „Dies erfordert von den Erkrankten ein hohes Maß an Durchhaltevermögen und viel Geduld, ohne anfangs zu wissen, was sich durch die Therapien genau bewirken lässt und inwieweit man wieder genesen wird.“
In der Schule wurde sie schmerzlich vermisst
Bei Tina Gutemann treffen Glück und Disziplin aufeinander. „Ich bin jetzt fast wieder wie vorher“, sagt sie nicht ohne Stolz. Eine Nachuntersuchung im Januar habe ergeben, dass nichts zurückgeblieben sei und sich das Gehirn immer noch verbessere. Seit Februar läuft ihre Wiedereingliederung in der Frickinger Grundschule, wo sie schmerzlich vermisst wurde: „Wenn du nicht mehr gekommen wärst, wäre ich auch nicht mehr gekommen“, habe ihr ein Mädchen geschrieben. Ein Junge habe sich Zauberkräfte gewünscht, um sie heilen zu können. Und auch jetzt noch erhalte sie täglich Geschenke, gemalte Bilder und Blumensträuße.

Ihr Schulteam habe während ihrer Abwesenheit sehr viel aufgefangen und sei dabei sehr zusammengerückt, berichtet die Rektorin erfreut. Auch die meisten Eltern hätten sehr wohlwollend reagiert und die Bemühungen des Kollegiums wertgeschätzt. Dass Einzelne allerdings Unwahrheiten über ihren Krankheitszustand verbreitet und sich beim Schulamt beschwert hätten, obgleich keine Stunden ausgefallen seien, traf die 47-Jährige. „Das Schulamt hat uns sehr den Rücken gestärkt und an mich geglaubt“, ist Tina Gutemann dankbar. Aktuell übernehme sie nur die Schulleitung und Vertretungen und steigere langsam ihre Stunden.
Neuer Blick auf das Glück des Lebens
Nach dieser Zäsur im Leben fühlt sich Tina Gutemann stärker als zuvor: „Ich sehe, wie kostbar alles ist“, stellt sie vormals vermeintlich wichtige Dinge in eine andere Relation. „Das Leben fühlt sich intensiver an, ich kann es besser genießen und wahrnehmen.“ Rückschläge habe sie bisher glücklicherweise keine gehabt, doch bei Kopfschmerzen schwinge stets etwas Sorge im Hinterkopf mit. Mit einer Mischung aus Ausruhen und Bewegung, Disziplin und radikaler Selbstfürsorge sei sie aber auf einem guten Weg. „Jammern und Hadern ist menschlich, nützt aber nichts“, ist sich die 47-Jährige sicher. Sie sei einfach davon ausgegangen, dass es wieder gut werde. „Und ich bin froh, dass ich nicht gestorben bin, weil ich sonst mein Enkelkind nicht kennenlernen könnte, das im Juli auf die Welt kommt.“