Devin Ö. geht schneller, als er die Rotach plätschern hört und bleibt abrupt stehen, als er den Grasstreifen am Ufer erreicht hat. Da steht er, im Gras, und schaut gebannt auf den Strom, der rasch vorbeifließt. Seine Mutter Sebnem wartet eine Weile. Da aber der Weg schmal ist und weitere Spaziergänger nahen, sagt sie: „Komm, wir gehen weiter zum Strand.“ Er zögert kurz, dann verwandelt er einen Ast vom Boden kurzerhand in einen Spazierstock und marschiert zügig Richtung See.

Devin Ö. verbringt viel Zeit am Strand, im Sand und am Wasser. Der Besuch seines Lieblingsspielplatzes war lange Zeit nicht möglich und ...
Devin Ö. verbringt viel Zeit am Strand, im Sand und am Wasser. Der Besuch seines Lieblingsspielplatzes war lange Zeit nicht möglich und auch zur Schule gehen kann er derzeit nicht. | Bild: Lena Reiner

Nach wenigen Schritten durch den Sand, den die Sonne gerade so nach einem Regenschauer getrocknet hat, lässt er sich auf die Knie fallen und bleibt sitzen. Er nimmt ein wenig Sand, lässt ihn von einer Hand in die andere und dann auf den Boden rieseln. Dann wieder dreht er den Kopf zur Sonne und kneift die Augen zusammen.

Devin Ö. verbringt viel Zeit am Strand, im Sand und am Wasser. Der Besuch seines Lieblingsspielplatzes war lange Zeit nicht möglich und ...
Devin Ö. verbringt viel Zeit am Strand, im Sand und am Wasser. Der Besuch seines Lieblingsspielplatzes war lange Zeit nicht möglich und auch zur Schule gehen kann er derzeit nicht. | Bild: Lena Reiner

Geregelter Tagesablauf ist wichtig

Ein Ferienidyll, möchte man meinen. Für Sebnem Ö. und Sohn Devin sind diese Spaziergänge und Strandbesuche aktuell zum Ersatz für all das geworden, was der Achtjährige schmerzlich vermisst: die Schule, seine Lehrer, die Mitschüler, das Hallenbad und die Reitstunden. Devin ist Autist, für ihn ist ein geregelter Tagesablauf noch wichtiger als für andere Kinder.

Hinweisschilder mit viel Text für Kinder schwer zu verstehen

Gleichzeitig fällt es dem Achtjährigen, der sich mit Worten oft schwertut, noch schwerer, die Hinweisschilder an den abgesperrten Plätzen zu verstehen. Sie sind weiß, laminiert und mit den schwarzen Buchstaben sehr unscheinbar. Sebnem vermisst Absperrband, eindeutige Piktogramme für ihr „besonderes Kind“, wie sie Devin nennt. „Da kann ich ihm einfacher erklären: Guck mal, da können wir nicht hin. Die rot-weißen Bänder – etwa an der Promenade – kann er inzwischen einordnen und versteht, was sie bedeuten.“

Alltag besonders für Alleinerziehende eine Herausforderung

So ist der Tagesablauf für die Alleinerziehende von drei Kindern inzwischen zur Herausforderung geworden. Statt Devin morgens um 6 Uhr zu wecken, ihn zu waschen und anzuziehen und ihn um 7.25 Uhr zum Bus zu bringen, der ihn in die Tannenhag-Schule bringt, wo er wechselweise bis 12.30 oder 15.20 Uhr unterrichtet und betreut wird, ist nun jeder Tag etwas anders. Meist beginnt der Morgen mit Devins Frage danach, ob er in die Schule gehen darf, die Sebnem leider immer noch verneinen muss. Oft fließen Tränen, weil vertraute Orte unzugänglich sind.

Videobotschaften aus der Schule

Immerhin ein kleines Stückchen Normalität hat vor einer Woche Einzug gehalten: Sebnem erhält jeweils am Vorabend ein Video des morgendlichen Schulrituals, des Morgenkreises. Aufgenommen in Devins Klassenzimmer, zeigt es das vertraute Gesicht seiner Lehrerin. Zwölf Minuten lang hat Devin so ein bisschen Schule zum Anschauen und ein Ritual zum Start in den Tag. „Ich bin wirklich dankbar für die Mühe, die seine Schule sich da macht“, betont Sebnem.

Schulleiter der Tannenhag-Schule erhält viele positive Rückmeldungen

Gerold Ehinger, Schulleiter der Tannenhag-Schule, betont hingegen: „Ich bin voll Respekt für das, was die Eltern leisten.“ Von der Mehrheit der Eltern habe er positive Rückmeldungen erhalten; es laufe gut mit den angebotenen Arbeitsmaterialien. Denn auch er habe sich ein wenig gesorgt, wie das denn sein werde für die Schüler, ohne die Möglichkeit, Freunde zu treffen und zur Schule zu gehen. „Wir sind ja eine Schule mit sehr klaren Abläufen. Diese Struktur der Schule fehlt nun.“

Gerold Ehinger, Leiter der Tannenhag-Schule
Gerold Ehinger, Leiter der Tannenhag-Schule | Bild: Lena Reiner

Das gesamte Kollegium stehe im regen Austausch mit den Eltern, unterstütze vor allem auch telefonisch, bringe notwendiges Arbeitsmaterial vorbei. „Bei uns ist die Bandbreite sehr groß, womit ein Schüler am besten lernt: von strukturiertem Spielmaterial über individuelle Arbeitsblätter bis hin zu digitalen Medien“, schildert er. Bei Bedarf ließe sich für einen Verleih der notwendigen Gerätschaften zum Homeschooling sicherlich eine Lösung finden, betont er: „Das habe ich auch den Kollegen gesagt.“

Notbetreuung für Schüler mit extrem hohem Pflege- und Förderbedarf erweitert

In der Notbetreuung befinden sich derzeit zwei Kindergarten- und vier Schulkinder. Die Richtlinien für sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ), zu denen die Tannenhag-Schule zählt, sind zwar für Schüler mit extrem hohem Pflege- und Förderbedarf erweitert, grundsätzlich gilt aber auch hier, dass lediglich diejenigen Schüler die Notbetreuung besuchen dürfen, deren Eltern in einem systemrelevanten Beruf arbeiten oder eine Präsenzpflicht in ihrem Beruf nachweisen können.

Dorothee Wiesmeyer zählt zu den Lehrerinnen, die die Notbetreuung an der Tannenhag-Schule sicherstellen.
Dorothee Wiesmeyer zählt zu den Lehrerinnen, die die Notbetreuung an der Tannenhag-Schule sicherstellen. | Bild: Lena Reiner

Schulalltag mit neuen Regeln

Seit 4. Mai dürfen nun auch die Abschlussklassen der Tannenhag-Schule wieder ihre vertraute Bildungseinrichtung fast direkt am Bodensee besuchen. Der Essensbereich ist dafür umsortiert, die Toiletten wurden mit einem großen „Besetzt“-Schild ausgestattet, da der Waschbeckenbereich zu eng für zwei Schüler ist, der Mindestabstand nicht eingehalten werden könnte. Und auch in den Klassenzimmern sind die Stühle auf markierte Stellen mit genug Abstand zueinander gestellt.

An der Tannenhag-Schule werden derzeit alle Vorkehrungen für die Rückkehr weiterer Schüler getroffen. Markierungen zeigen, wo Stühle ...
An der Tannenhag-Schule werden derzeit alle Vorkehrungen für die Rückkehr weiterer Schüler getroffen. Markierungen zeigen, wo Stühle stehen und wo gewartet werden darf. | Bild: Lena Reiner

Die größte Herausforderung? „Unsere Arbeit umfasst auch pflegerische Aspekte“, erklärt der stellvertretende Schulleiter Christian Urff. „Das ist mit dem Mindestabstand einfach nicht möglich.“

Gerold Ehinger, Leiter der Tannenhag-Schule (rechts), und sein Stellvertreter Christian Urff
Gerold Ehinger, Leiter der Tannenhag-Schule (rechts), und sein Stellvertreter Christian Urff | Bild: Lena Reiner

Da gehe es etwa darum, beim Essen zu helfen oder bei anderen Handgriffen zu unterstützen. Dabei würden selbstverständlich Masken zum Schutz getragen und Hygienemaßnahmen eingehalten. Die Masken, die im Schulgebäude auch auf den Fluren getragen werden sollen, seien wiederum eine besondere Herausforderung für die Schüler, die auf Mimik und Mundbewegungen angewiesen seien.

„Leben mit Corona„ Thema im Unterricht der Abschlussschüler

Um die Abschlussschüler, die nach diesem ungewöhnlichen letzten Schuljahr bald ins Berufsleben starten, bestmöglich darauf vorzubereiten, beschäftige sich die aktuelle Unterrichtseinheit mit dem Thema „Leben mit Corona“.

Draußen Hinweisschild, drinnen Desinfektionsmittel. Die Tannenhag-Schule ist vorbereitet.
Draußen Hinweisschild, drinnen Desinfektionsmittel. Die Tannenhag-Schule ist vorbereitet. | Bild: Lena Reiner

An der Schule am See sind aktuell vier Schüler regelmäßig in der Notbetreuung

Die Schule am See, ebenfalls SBBZ, die sich mit der Tannenhag-Schule das Gebäude teilt, besuchen derzeit vier Schüler regelmäßig in der Notbetreuung, weitere sieben Schüler tageweise zur Entlastung der Familien aufgrund ihres erhöhten Förder- und Pflegebedarfs. „Um möglichst viele Familien unterstützen zu können, bieten wir diese Art der Betreuung tageweise an“, erläutert Schulleiterin Ulrike Oechsle und ergänzt: „Dieses Angebot wird von den Eltern sehr gut angenommen und sie sind sehr dankbar.“

Ulrike Oechsle, Schulleiterin der Schule am See
Ulrike Oechsle, Schulleiterin der Schule am See | Bild: Lena Reiner

Eine besondere Herausforderung sei sicherlich, dass bei pflegerischen Tätigkeiten nicht immer der Mindestabstand eingehalten werden könne und allgemein insgesamt viele der Schüler zur Risikogruppe gehörten: „Daher haben wir eine besondere Verantwortung.“ Die anderen Herausforderungen seien jene, mit denen man an anderen Schularten auch zu tun habe. So seien nicht alle Schüler digital erreichbar, es fehle an Endgeräten und stabilen Internetverbindungen. Mit dem Verleih von Computern und Tablets versuche die Schule, hier weiterzuhelfen.

Mit Schülern digital in Kontakt

Die Schule arbeitet mit der Online-Lernplattform Moodle. „Ansonsten haben wir jetzt nach den Osterferien alle Kollegen und Schüler mit einem Zugang zu Microsoft Teams versorgt, sodass bis auf den Internetzugang und ein Endgerät alles zur Verfügung gestellt wird“, schildert Ulrike Oechsle. So sei es ihnen möglich, mit allen Schülern „in irgendeiner Form digital in Kontakt“ zu sein. Wer keinen Drucker zu Hause habe, werde von seinen Lehrern mit den Arbeitsblättern in Papierform versorgt.

„Den aktuellen Zustand gab es bisher noch nie in der Form, wir sind also alle unerfahren und müssen einfach einiges ausprobieren. Dazu brauchen wir ein gewisses Maß an Mut und Optimismus“, betont sie abschließend.