Die langen Kita- und Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie wirken sich nicht nur negativ auf die Entwicklung vieler Kinder aus, sondern auch auf ihre Abwehrkräfte. Denn weniger Kontakt zu anderen Kindern bedeutet eben auch weniger Kontakt zu bestimmten Erregern – und damit weniger Immunität, also Abwehrmechanismen. So gab es zwar während der Pandemie weniger Infekte bei Kindern, dafür werden die jetzt mit zunehmenden Lockerungen umso intensiver nachgeholt.

Dr. Steffen Kallsen ist Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche des Klinikums Friedrichshafen.
Dr. Steffen Kallsen ist Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche des Klinikums Friedrichshafen. | Bild: Medizin Campus Bodensee

Das beobachtet auch Dr. Steffen Kallsen, der als Chefarzt das Mutter-Kind-Zentrum des Medizin Campus Bodensee leitet. „Im Zuge der intensiven Hygienemaßnahmen haben wir eine infektarme Saison 2020/2021 erlebt, was man auch an der rückläufigen Bettenbelegung in den Kinderkliniken ablesen kann“, erklärt er. Jetzt wiederum – mit offenen Kitas und Schulen und damit mehr Kontakten – finde der natürliche Weg der Immunisierung wieder statt. „Die Infektsaison beginnt dieses Jahr etwas früher und verläuft teils etwas intensiver“, berichtet der Kindermediziner.

Das könnte Sie auch interessieren

Aktuell seien vor allem Kinder mit Pseudokrupp, obstruktiven Bronchitiden und Lungenentzündungen in der Kinderklinik – also akute Atemwegsinfekte, die bis auf die Lunge gehen können. Zwar sei die Kinderklinik stark ausgelastet, aber das Patientenaufkommen entspräche immer noch einer ausgeprägten Infektsaison, wie es sie immer wieder gab. „Wir hatten, wie alle Kliniken, auch bereits vor der Pandemie punktuell immer wieder mit knappen Kapazitäten zu kämpfen und sind auch dieses Jahr wieder stark gefordert“, sagt der Chefarzt.

Die Infektionen gehen laut Kallsen vor allem auf Rhino- oder Enteroviren und Parainfluenza-Viren zurück. Vereinzelt gebe es auch Nachweis von Sars-Cov2, also dem Coronavirus, häufiger seien jedoch die typischen saisonalen „alten“ Corona-Viren. Und auch das Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV), das besonders für Säuglinge und Kleinkinder gefährlich werden kann, sorgt für belegte Betten in der Kinderklinik. Immer wieder müssen kleine Kinder deshalb künstlich beatmet werden. Das Fatale: Die Erwachsenen bekommen dabei nur einen leichten Schnupfen, sind aber Überträger. Bei den Kindern nimmt das Virus teilweise schwere Verläufe – also genau gegensätzlich zum Sars-Cov2-Virus, das vor allem ältere Menschen gefährdet. Allerdings gibt es für das RS-Virus – anders als bei Sars-Cov2 – keinen Impfstoff.

Das könnte Sie auch interessieren

Dass Kinderkliniken in Deutschland ab der Herbstsaison am Limit laufen, ist seit vielen Jahren Realität. So auch in Friedrichshafen. „Mehr als einmal war das letzte Bett belegt in der Kinderklinik, dann werden die kleineren und größeren Patienten auch schon einmal vorübergehend im Aufnahmezimmer untergebracht. Weil die meisten Kinder aber nur einer kurzen stationären Behandlung bedürfen, sind wir glücklicherweise schnell in der Lage, die Betten wieder regulär zu belegen“, berichtet Kallsen.

Die Infektsaison hat früher und intensiver begonnen – und führt zu vielen kleinen Patienten im Mutter-Kind-Zentrum des Medizin ...
Die Infektsaison hat früher und intensiver begonnen – und führt zu vielen kleinen Patienten im Mutter-Kind-Zentrum des Medizin Campus Bodensee. Hier werden insbesondere aktuell viele Säuglinge und Kinder mit aktuten Atemwegserkrankungen behandelt. Eine Sars-Cov2-Infektion jedoch haben die wenigsten, die meisten sind aufgrund einer anderer viralen Infektion hier. | Bild: Lena Reiner

Der Hauptdruck bei dem hohen Durchlauf laste aber wie so oft auf den Pflegekräften, die mit Herz, Kompetenz und höchstem Engagement auch in diesen Zeiten dafür Sorge tragen würden, dass die Kinder und ihre Angehörigen gut versorgt seien, so Kallsen. Während der Pandemie kämen jedoch noch zusätzliche Hygienemaßnahmen hinzu, die im Stationsalltag umgesetzt werden müssen. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) moniert seit Jahren den immensen Kostendruck der Kinderkliniken und den enormen Fachkräftemangel. Laut DGKJ würde nahezu jeder Winter die Kinderkliniken an Belastungsgrenzen führen, weil die Folge aus Kostendruck und Personalmangel Bettenschließungen und Leistungsbegrenzungen seien.

Das könnte Sie auch interessieren

Würden strengere Hygieneregelungen den Verlauf stoppen?

Klar ist: Weder für die Kinder- und Jugendmediziner wie Steffen Kallsen noch für die Politik ist ein erneuter Lockdown mit Kita-und Schulschließungen eine Option. „Wir werden diesen Verlauf jetzt nicht ändern können, ich befürworte auch unbedingt das Öffnen von Kindergärten und Schulen und freue mich über unbeschwert spielende Kinder“, sagt Kallsen, der die Kindergesundheit ganzheitlich im Blick hat. So haben verschiedene Verbände der Kinder- und Jugendärzte immer wieder betont, wie wichtig offene Schulen und Kitas auch während der Pandemie seien – und dass diejenigen, mit dem niedrigsten Corona-Risiko nicht am stärksten durch Maßnahmen belastet werden dürften. Für Dr. Kallsen steht fest: „Die aktuelle Situation zeigt, wie wichtig eine sichere und stabile kommunale Versorgungsstruktur fernab der medizinischen und universitären Zentren ist.“