Ein zehn Meter großer und furchteinflößender Gigant mit einer rissigen und zerfurchten Fratze steht regungslos inmitten des Häfler Riedlewalds. Man könnte meinen, er sei kahlköpfig, ob der fehlenden Krone und Haupthaar, doch bei genauerem Hinsehen erkennt man: dunkles Gestrüpp, mit Schnee bedeckt, umrahmt sein Antlitz. Nein, hier wird keine fantastische Figur aus dem Roman „Die unendliche Geschichte“ beschrieben, doch der Anblick lässt fast vermuten, dass sich Michael Ende hier zu seinen Baumriesen des Nachtwaldes inspirieren ließ.
Doch was hat es mit dem von Efeu umrankten Baumtorso auf sich, der sich inmitten des Stadtwaldes, rund 200 Meter nach dem Wasserturm in Richtung der B31 befindet?
Bei Spaziergängern beliebt
Karin Beer, die Friedrichshafener Revieroberinspektorin, weiß um die Hintergründe. Während sich bis vor wenigen Jahren das Landratsamt für das Wohlergehen der Häfler Wälder verantwortlich zeigte, ist Beer seit 2020 Herrin der Wälder in und um Friedrichshafen, dessen Gesamtfläche sich auf rund 300 Hektar belaufen. Sie marschiert mit einem aufmerksamen Blick durch den Riedlewald und schaut nach dem Rechten. In der Nacht zuvor hat es geschneit. Spaziergänger kreuzen ihren Weg, die ihr Smartphone zücken und Fotos des Winterwunderwaldes aufnehmen.

Besonders in Zeiten von Schneefall und anderen zufälligen Wetterereignissen ist Beers Einsatz gefragt. Da der Riedlepark unter anderem als Naherholungsgebiet dient und gemäß einer Schätzung Beers täglich rund 2000 Personen den Stadtwald aufsuchen und queren, ist es wichtig, Sicherheitsvorkehrungen zu treffen und immer wieder zu überprüfen, ob und wo gefährdende Bäume getrimmt oder gefällt werden müssen. „In den letzten Monaten haben die Verkehrssicherungsmaßnahmen aufgrund vieler extremen Wetterereignisse sehr viel Zeit und Ressourcen in Anspruch genommen“, so Beer.
Weniger ist mehr
Nun zurück zu dem rätselhaften Baumtorso. Dieser ist das Sinnbild für die Forstwirtschaft, die Beer vorantreibt: Großteils naturbelassen und vielfältig sollen die Häfler Waldflächen werden, nach dem Motto: Weniger (Eingriff) ist mehr. Dazu gehört auch, dass die Försterin Bäume, die unter Pilzbefall leiden oder durch Schneebruch in Mitleidenschaft gezogen wurden, nach Sicherheitskriterien begutachtet und folgend entscheidet, ob diese komplett gefällt werden und das Holz verkauft wird oder ob die Bäume noch zur Hälfte stehen bleiben dürfen.
Wichtig für das Ökosystem
Besagter Baumriese im Riedlewald durfte stehen bleiben, denn der absterbende Baum hat einen besonderen Wert für das Ökosystem. Die ersten Organismen, die den geschwächten Baum befallen, sind meist Pilze oder Insekten. Sie zersetzen das Holz und das Laub und öffnen vielen anderen Tieren und Pilzen dadurch Tür und Tor. Und wo Insekten sind, da sind auch Vögel, die sich über das große Nahrungsangebot freuen. Spechte klopfen die Rinde ab und schlagen Löcher in das Holz, um an Insektenlarven im Inneren zu gelangen. Außerdem bauen sie im Totholz Spechthöhlen, um ihren Nachwuchs aufzuziehen. Auch Fledermäuse nutzen den Baumriesen als Unterschlupf. Rund 20 dieser Torsi sind mittlerweile im Riedlepark zu finden.
Irritierte Spaziergänger
Zur nachhaltigen Forstwirtschaft gehört auch, dass ein gewisser Anteil an Totholz nicht mehr aus ästhetischen Gründen weggeräumt und weiterverwertet, sondern im Wald belassen wird. „Es kommt vor, dass Spaziergänger irritiert sind, dass Totholz im Wald liegt. Viele sehen Festmeter, die im Ofen landen könnten. Aber abgestorbenes Holz ist die Lebensgrundlage für zahlreiche Arten und wichtig für einen gesunden, widerstandsfähigen und vielfältigen Wald – der Nutzen von Totholz für den Wald und für nachfolgende Generationen ist monetär gar nicht zu bemessen“, erklärt Beer. „Die Natur weiß schon, was richtig ist.“ Und damit bleibt zu hoffen, dass sich auch künftige Generationen am Riedlepark erfreuen und dieser tatsächlich zu einer unendlichen Geschichte wird.