Hilflosigkeit, Trauer, Wut – das sind die Emotionen, die in Gesprächen mit Angehörigen begegneten. Seit den Berichten über die Vorwürfe einer Oberärztin am Klinikum in Friedrichshafen im Dezember 2023 erreichen den SÜDKURIER zahlreiche Zuschriften von Lesern. Sie erzählen davon, was sie oder ihre Angehörigen im Klinikum Friedrichshafen erlebt haben.
Die Geschichten und die Erfahrungen der Angehörigen sind unterschiedlich. Da ist die 82-jährige Frau aus Pfullendorf, die einen hämorrhagischen Schock nach einer Herzkatheteruntersuchung erlitt. Der Familienvater aus Markdorf, der nach einer Woche auf der Intensivstation an Corona verstarb. Und die Mutter, die nach einer schweren Lungenentzündung ebenfalls verstarb.
Angehörige bleiben mit vielen Fragen zurück
Eines aber haben alle Berichte gemeinsam: In keinem der Fälle konnte ein medizinisches Gutachten einen Behandlungsfehler feststellen. Die behandelnden Ärzte haben den Gutachten zufolge richtig gehandelt. Bei den Angehörigen, mit denen der SÜDKURIER gesprochen hat, hinterlässt das viele offene Fragen. Denn warum es zu Zwischenfällen bei den Behandlungen kam, die teils tödlich endeten, ist für die Familien bis heute unklar. Sie berichten, dass sie sich Entschuldigungen wünschen und fordern Antworten auf ihre vielen Fragen.
Doch warum fühlen sich Angehörige und Patienten so hilflos gegenüber Ärzten? Damit kennt sich Bernhard Bense aus. Er ist Fachanwalt für Medizinrecht in Konstanz und vertritt in seiner Kanzlei sowohl Patienten als auch Ärzte. Am Klinikum Friedrichshafen hat Bense kein Mandat, die Geschichten der Patienten sind ihm nicht bekannt.
„Kausalität ist der Knackpunkt“
Auch Bense erlebt viele aufgewühlte Patienten in seiner Praxis. „Für meine Mandanten ist das eine emotionale Sache, für die man Empathie braucht“, sagt Bense. Den meisten Mandanten in seiner Kanzlei gehe es nicht um Geld: „Oftmals bemängeln die Patienten, dass es keine Bereitschaft gibt, sich zu entschuldigen oder Fehler zuzugeben.“
„Die Kausalität ist der Knackpunkt“, sagt der Experte. Viele Mandanten würden bei Bense in der Kanzlei erscheinen, da sie einen Gesundheitsschaden erlitten haben. Es müsse jedoch festgestellt werden, dass dieser Schaden tatsächlich durch einen ärztlichen Fehler entstanden sei. „Allein die Tatsache, dass es dem Patienten nach der Behandlung schlechter geht, führt nicht zur Haftung. Dazu ist der menschliche Körper zu komplex“, sagt Bense: „Es gibt viele sehr gute Ärzte. Komplikationen kann aber niemand ausschließen.“
Patient muss nachweisen, dass ein Behandlungsfehler vorliegt
Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Befunderhebungsfehler und Diagnosefehler. Ein Befunderhebungsfehler liegt vor, wenn der Arzt die medizinisch gebotenen diagnostischen Maßnahmen nicht vornimmt. Ein Befunderhebungsfehler besteht also beispielsweise dann, wenn der Arzt kein Röntgenbild anfertigen lässt, obwohl dies medizinisch erforderlich gewesen wäre.
Liegt ein Diagnosefehler vor, wurde der Befund falsch interpretiert. Ein einfacher Diagnosefehler führt nicht zwangsläufig dazu, dass der Arzt haften muss: Fehlinterpretationen werden nicht automatisch angelastet. Zu einer Haftung kommt es nur bei einer fundamentalen Fehldiagnose.
In beiden Fällen gilt: Die Patienten müssen nachweisen, dass ein Behandlungsfehler vorliegt. Erst wenn dies erfüllt ist, kommt es zur sogenannten Beweislastumkehr: Der Arzt muss dann beweisen, dass der Schaden am Patienten auch ohne den Fehler entstanden wäre.
Gutachten ist entscheidend
Ganz entscheidend ist laut Anwalt Bernhard Bense das Gutachten: „Das Gutachten ist für mich als Anwalt sehr wichtig. Erstmals hat ein Arzt darin festgestellt, dass ein Behandlungsfehler vorliegt.“ Es gibt dafür drei Wege: Bei den Gutachterkommissionen der Ärztekammern oder beim Medizinischen Dienst über die Krankenkassen kann ein Gutachten kostenfrei erstellt werden. Betroffene können auch privat einen unabhängigen Arzt beauftragen. Das ist kostspielig: Ein privates Gutachten kann 2000 Euro kosten.
Die Qualität der Gutachten unterscheidet sich: „Es kommt durchaus vor, dass Gutachten sehr knapp ausfallen“, sagt Bense. Für die Angehörigen, die sich an den SÜDKURIER gewandt haben, ist das eine schwierige Situation. Denn befriedigende Antworten auf ihre Fragen erhalten sie in diesem Fall nicht. Wichtig ist laut Anwalt Bense deshalb, beim Erstellen der Gutachten die richtigen Fragen zu stellen. Überzeugt das Gutachten nicht, könne man versuchen, ein anderes Gutachten einzufordern, sagt er. „Ohne positives Gutachten wird ein Prozess nicht gewonnen.“
Mehr Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten
Kommt es zu einem Gerichtsverfahren, handle es sich meist um zivilrechtliche Verfahren, erzählt Bernhard Bense. Den meisten Mandanten in seiner Kanzlei gehe es um die Forderung von Schadensersatz. „Den Patienten ist am meisten geholfen, wenn der entstandene Schaden wieder ausgeglichen wird“, sagt Bense. Wenn schwere Personenschaden entstünden, müssten hohe Pflege- oder Hausumbaukosten getragen werden.
Insgesamt sieht Bernhard Bense das Vorgespräch vor einer Behandlung als entscheidend an. Patienten müssten sich der Risiken ihrer Behandlung bewusst sein. Mehr Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten würde laut Bense in vielen Fällen für Klarheit sorgen.
Bei den Patienten, die sich wegen Vorfällen am Klinikum Friedrichshafen an den SÜDKURIER gewandt hatten, bleiben weiterhin Fragen offen. „Wir würden gerne damit abschließen, aber wir können nicht“, sagt die Frau, die ihren Mann und den Vater ihrer beiden Kinder vor mehr als drei Jahren verloren hat. Sie möchte anonym bleiben. „Unerträgliche Schmerzen“ habe der Tod bei der Familie ausgelöst. Dieser Schmerz wird wohl für immer bleiben.