„Das macht jeden betroffen“, sagt Uwe Stürmer. Gut eine Woche ist vergangen, seit ein 47-Jähriger an einem Samstag um die Mittagszeit in Markdorf am Bodensee seine von ihm getrennt lebende Ehefrau erschossen hat. Der Mann sitzt in Untersuchungshaft. Die Brutalität der Tat schockierte die Menschen. Es ist die zweite getötete Frau und Mutter innerhalb kurzer Zeit in der Region. Die 24-jährige Sabrina P. soll wenige Tage zuvor in Stockach von ihrem 22 Jahre alten Partner mit einem Kabel erdrosselt und vom Balkon geworfen worden sein.
Stürmer, Präsident des Polizeipräsidiums Ravensburg, beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren intensiv mit dem Thema Gewalt gegen Frauen. Aktuell koordiniert er ein bundesweites Forschungsprojekt zu Intimiziden, den Tötungen unter Partnern. Der Fall von Markdorf lässt ihn nicht kalt, daraus macht er keinen Hehl. Im Präsidium in Ravensburg spricht er mit dem SÜDKURIER über die Tat, deren Hintergründe und Folgen.
Was wusste die Polizei vor der Tat?
Es gab eine Vorgeschichte. Luisa F., die Tochter der Getöteten, sagte im Gespräch mit dem SÜDKURIER, dass ihr Vater die Mutter mit dem Tod bedroht habe. Er habe sie auch mehrfach im Laden an ihrem neuen Wohnort in Markdorf aufgesucht – nach der Trennung. Die Polizei bestätigt im Gespräch: Im Mai 2022 zeigte Sebastiana F. ihren Mann beim Polizeirevier in Pfullendorf an. Eine zweite Anzeige folgte Ende Juni bei der Polizei in Stockach. Damals wohnte sie offenbar in Bodman-Ludwigshafen. „Wir haben damals auch einen Platzverweis ausgesprochen“, sagt Stürmer. Zudem verhängte die Polizei eine Geldstrafe gegen den Mann. Dabei wurde auch eine Mitteilung an das Jugendamt und die Ausländerbehörde gemacht. Außerdem wurden ihm bereits auf der Polizeiwache in Pfullendorf Fingerabdrücke abgenommen.
Was geschah in der Zeit danach bis zur Tat?
Die Frau war offenbar im Sommer 2022 mit ihrem Sohn nach Markdorf gezogen, wo sie im Megamix eine neue Arbeit gefunden hatte. Der Polizei sei ihr neuer Wohnort nicht bekannt gewesen. Mindestens einmal muss der Mann laut Polizei seine Ehefrau danach noch an ihrer neuen Arbeitsstelle im Megamix aufgesucht haben. Eine weitere Anzeige wegen Bedrohung oder anderer Delikte habe es seither aber nicht gegeben.

Was ist über die Herkunft des 47-Jährigen bekannt?
Der Mann hat einen albanischen Pass. Doch spielt seine Herkunft eine Rolle bei der Tat? Uwe Stürmer zeigt eine Kuchengrafik und sagt: „Es gibt auch Schwaben und Badener, die sowas machen.“ Häusliche Gewalt gebe es zudem auch nicht nur in einem bestimmten sozialen Milieu, sondern in allen Schichten. Die Polizei nennt die Herkunft von mutmaßlichen Tätern inzwischen bei allen Gewaltverbrechen – bei einem Fall wie in Markdorf also grundsätzlich. Auf Anfrage des SÜDKURIER hatte sie aber auch betont, dass aus ihrer Sicht die Nationalität nicht tatrelevant gewesen sein müsste. Eine mögliche Tatrelevanz werde im Zuge des Gerichtsverfahrens untersucht. Nachdem sich die Redaktion mit der Tochter der Getöteten unterhalten, dort viele Hintergründe erfahren und über dieses Gespräch auch berichtet hat, sieht sie die Nennung der Nationalität als angezeigt an.
Was war über die Waffe bekannt?
Darüber, dass der Mann eine Waffe haben könnte, habe die Polizei nur „vage Erkenntnisse“ gehabt, sagt Stürmer. Es habe Hinweise des Sohnes und der Frau selbst gegeben. Bei einer Hausdurchsuchung der gemeinsamen Wohnung sei aber keine Waffe gefunden worden. „Der Mann hatte eine kriminelle Vorgeschichte“, sagt Stürmer. „Jemand, der sich auskennt, versteckt eine Waffe vermutlich nicht in der Wohnung.“ Zu weiteren Maßnahmen fehlten dann wiederum die Handhabe oder mehr Hinweise.
Welche Rolle spielt Beratung?
Beratung spiele eine entscheidende Rolle, sagt Stürmer. Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt seien, lebten oft in einer Starre, hätten sich mit der Gewalt abgefunden, resignierten, seien verängstigt, untergeordnet oder gäben sich auch selbst die Schuld. Sie aus diesen inneren Gefängnissen herauszuführen, gelinge nur mit fachkundiger Hilfe. Um jemandem Beratung zukommen lassen zu können, müsse diese Person aber den ersten Schritt tun. Im Megamix-Fall habe die Polizei erfahren, dass die Frau vor ungefähr einem Jahr bereits beim Frauenhaus in Ravensburg angefragt, sich dann aber nicht mehr gemeldet hatte.
Hätte die Tat verhindert werden können?
Es gebe jeden dritten Tag eine Bedrohung gegenüber einer Frau im Bereich des Präsidiums, sagt Stürmer. Ein Eingreifen sei aber oft nicht einfach: „Die Polizei ist dabei auf das Opfer und auch deren soziales Umfeld angewiesen.“ Ähnlich verhielt es sich auch im Megamix-Fall: Weil die Frau einer Weiterleitung ihrer Anzeigen widersprochen hatte, konnte sie von Hilfseinrichtungen für Beratungsangebote nicht kontaktiert werden. Bei einer ihrer Anzeigen habe die Frau zwar gesagt, dass ihr Mann seit 20 Jahren ihr gegenüber immer wieder gewalttätig gewesen sei. Das Gewaltschutzgesetz besagt jedoch, dass das Opfer ein Annäherungsverbot beantragen muss. Dies habe die Frau aber nicht getan, weshalb es für die Polizei keine Handhabe gegeben habe, einzugreifen.

Der Fall von Sebastiana F. war nicht als Hochrisikofall eingestuft – warum?
„Natürlich hinterfragt man sich“, sagt Polizeisprecher Oliver Weißflog. Aber: „Wir hätten Erkenntnisse gebraucht, die wir einfach nicht hatten. Und selbst wenn bei einem Fall klar wäre, da ist der Faden gerissen, da haben wir einen Fehler gemacht: Dann würden wir das auch sagen.“ Viele Erkenntnisse, die nun bekannt seien, seien den Behörden vor der Tat noch nicht bekannt gewesen. Androhungen von Gewalt gebe es in toxischen Beziehungen sehr häufig, sagt Stürmer. Er spricht von „Tötungsdelikten mit Ansage“.
In nicht einmal einem Prozent dieser Fälle komme es jedoch zur Tat, also einer Tötung. Die Polizei stufe einen Fall dann als Hochrisikofall ein, wenn es zu akuter und harter körperlicher Gewalt gekommen sei, wenn eine Person schwer verletzt wurde oder es in der Vergangenheit bereits Angriffe auf ihr Leben gegeben habe. Das sei hier nicht der Fall gewesen. Häufig habe man ein „Türspaltwissen“, sagt Weißflog. Um aber tatsächlich auf den Bereich hinter dem Türspalt schauen zu können, sei die Polizei auf Informationen und Hinweise des Umfelds und der Betroffenen angewiesen.
Was kann die Polizei tun, wenn die Lage eskaliert?
Im Akutfall oder wenn ein Opfer sich direkt an die Polizei wende, habe die Polizei mittlerweile ein „großes Instrumentarium“, sagt Stürmer. Das Gewaltschutzgesetz sehe ähnliche Maßnahmen vor wie der Zeugenschutz: Umzug an einen anderen Ort, neue Identität. Ein Wohnungsverbot für einen gewalttätigen Ehemann könne hingegen nur für die Dauer von 14 Tagen, die sogenannte Akutzeit, ausgesprochen werden. Abgesehen davon spiele dies für Gewalttäter meist keine Rolle. „Das ist für die oft nur ein Stück Papier, nicht mehr“, sagt Stürmer: „In ihrer obsessiven Fixierung auf das Opfer leben sie nur noch in ihrem Tunnelblick.“