Manche mussten draußen bleiben. So groß war der Andrang auf den Festvortrag zum Neujahrsempfang 2024 in der Aula des Markdorfer Bildungszentrums. Und selbst die Prominenz des geladenen Festredners – die Stadt hatte den Linken-Politiker Gregor Gysi an den Bodensee geladen – bewirkte keine Ausnahme vom heute herrschenden strengen Bestuhlungs-Regiment in öffentlichen Sälen.

Unmutsbekundungen waren drinnen in der Aula nicht zu hören von denen, die nicht hereingelassen wurden. Stattdessen war der Protest von ganz anderer Seite um so deutlicher zu sehen. Denn die die Fenster der Aula gaben den Blick auf den Busparkplatz vor der Schule frei, auf dem Markdorfer Landwirte ihre Traktoren abgestellt hatten – ausgestattet mit Plakaten und Parolen. Wie zum Beispiel: „Wer ernährt euch eigentlich?“

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Gregor Gysi weiß die Antwort. Ihm, dem einst nach dem Abitur in der DDR zum „Facharbeiter für Rinderzucht“ Ausgebildeten, ist klar, welche Rolle die Bauern in der Gesellschaft spielen. Ihm sei sehr wohl bewusst, da muss er offenbar nicht erst in Friedrich Engels‘ Buch über den Bauernkrieg nachschlagen, welche Kräfte agrarischer Unmut freizusetzen vermag. Und womöglich hat Gysi sogar mit dem Jubel gerechnet, den sein Bekenntnis zu den Forderungen der landauf, landab protestierenden Bauern bei seinen Markdorfer Zuhörern hervorrief. „Wir brauchen die Landwirte! Sie ernähren uns!“ war denn Gysis Antwort auf die draußen am Trecker prangende Frage.

Einblicke in häuslichen Alltag eines Bundestagsabgeordneten

Mindestens ebenso gut wie sein Verständnis für die „Existenznöte der Bauern“ kam das von Gysi gezeigte Verständnis für die schwierige Lage des „immer stärker vom Staat belasteten Mittelstands“. Auch dafür gab es Beifall. Schmunzeln und Lacher erntete der Berliner Politiker für seine Einblicke in den häuslichen Alltag eines Bundestagsabgeordneten. Der leide genau so unter Lieferengpässen und Terminschwierigkeiten wie jeder andere Bürger. Nur fühlt sich Gysi nach neun Monaten Material-Verzug und weiteren drei Monaten, bis der überlastete Handwerker dann endlich auch Zeit für ihn fand, an die Zustände in der DDR erinnert.

Diesen Elefanten im Raum scheute Gysi nicht. Ja, er erwähnte sogar den Schießbefehl. Trotzdem warb er für mehr Rücksicht auf die Befindlichkeiten der in der DDR Sozialisierten. „Außer Abbiegepfeil und Sandmännchen wurde ja in der wiedervereinigten Republik nichts übernommen.“ Die Ex-DDR-Bürger mussten sich fortan auf der Verliererseite sehen. Und im Westen habe die Wiedervereinigung auch keinen gefühlten Zugewinn gebracht: außer hohen Kosten und lästigen Nörglern. Nach Ausflügen in die Weltpolitik, nach Rezepten zur Senkung des auch hierzulande immer steiler werdenden sozialen Gefälles, nach bürokratiebremsenden und wirtschaftsbeschleunigenden Vorschlägen sowie manch Anekdotischem aus Berlin und Umgebung, wollte Gysi sich dem anderen Elefanten im Raum aber nicht mehr ernsthaft stellen. „Fürs Thema Linkspartei fehlt mir jetzt die Zeit“, scherzte er.