Stefanie Piesche ist frustriert. „Mir wäre doch auch nichts lieber, als wenn er morgens um 8 Uhr einfach in die Schule gehen könnte, aber das ist nicht möglich. Und dann wird einem noch von den Behörden gegen das Schienbein getreten.“ Piesche kämpft derzeit um das Recht auf Bildung für ihren 17-jährigen Sohn Frederik Wolff.

Ein „normaler Alltag“, so schildern es die Eltern, sei seit Geburt ihres Sohns eigentlich nicht mehr möglich. Vater Thomas Wolff erklärt: „Wir haben einen chronisch kranken und je nach Bereich auch stark beeinträchtigen Jungen mit Pflegegrad 5 und entsprechendem Pflegeaufwand und Assistenzbedarf in verschiedenen Bereichen.“ Mit der Situation müssten ihr Sohn und sie klarkommen. „Eine Regelbeschulung ist nicht möglich, so sehr wir – vor allem Frederik selbst – uns das wünschen.“ Frederik habe erst spät lesen und schreiben gelernt, schildert die Mutter: „Da er keine der Kulturtechniken in den ersten drei Jahren Schule gelernt hatte, habe ich es ihm dann zu Hause beigebracht. Dabei kannte er schon mit vier Jahren das komplette Alphabet.“

Webschule für Familie eine Lösung

Mit einer Webschule fand die Familie 2020, da war Frederik schon 13 Jahre alt, endlich eine Lösung, mit der sie sich alle wohlfühlten und Frederik tatsächlich etwas lernte. Krankenbeschulung zu Hause war zwar bereits vor zehn Jahren seitens des Schulamts als Möglichkeit genannt, aber nie umgesetzt worden. Stattdessen soll Frederik wöchentlich für zweimal zwei Schulstunden die Schule der Camphill-Schulgemeinschaft in Föhrenbühl besuchen, derzeit den Chor und Sportunterricht.

Frederik kann das Haus morgens nicht verlassen

Frederik wurde mit einem sehr seltenen Gendefekt geboren, der eine sorgfältige und zeitintensive Pflege erfordert. Da er außerdem mehrfachbehindert ist und zusätzlich zur normalen Ernährung unter Berücksichtigung seiner Allergien und Unverträglichkeiten über eine Nasensonde ernährt werden muss, nimmt seine medizinisch notwendige Grundversorgung täglich mehrere Stunden in Anspruch. Er kann das Haus vormittags nicht verlassen.

Frederik Wolff mit seinen Eltern Stefanie Piesche und Thomas Wolff.
Frederik Wolff mit seinen Eltern Stefanie Piesche und Thomas Wolff. | Bild: Lena Reiner

Wohl aber kann der 17-Jährige an einer Webschule am Unterricht in Deutsch, Mathematik, Englisch und Sachkunde teilnehmen. Sein Lieblingsfach? „Sachkunde“, sagt er, nur beim Lieblingsthema kann er sich nicht entscheiden: „Eigentlich war alles mein Lieblingsthema; Dschingis Khan zum Beispiel.“

Das sagen die Behörden

Frederik will lernen und kann lernen, wenn das entsprechende Angebot da ist. Er sagt selbst: „Ich würde gerne zur Schule gehen, aber ich möchte dort auch etwas lernen.“ Umso mehr sind seine Eltern verärgert, dass seinem Lernfortschritt derzeit vonseiten der Behörden so viele Steine in den Weg gelegt werden.

Schulamt berücksichtigt nur analogen Unterricht

Und dann war da diese E-Mail vom Schulamt, die seine Eltern Anfang des Jahres 2023 erreichte. „Da wurden wir darauf hingewiesen, dass das Ordnungsamt eingeschaltet wird, wenn die Schulpflicht nicht erfüllt wird“, erinnert sich Vater Thomas Wolff empört zurück. Dabei sei lediglich der analoge Unterricht in Föhrenbühl berücksichtigt worden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Frederik wegen Corona dort nicht an einer einzigen Schulstunde teilnehmen können. „Seine Schulkameraden kannte er bis dahin gar nicht, die Klassenlehrerin hatte er nur bei den seltenen Übergaben von Schulaufgaben zu Beginn der Pandemie kurz gesehen“, führt Stefanie Piesche aus.

Eltern wollen Sohn umfassende Bildung ermöglichen

Eine externe Schulbegleitung lässt sich seit Januar 2019 nicht finden, sodass die Mutter ihren Sohn selbst begleiten muss. Sie möchte, dass ihm eine umfassendere Bildung zuteilwird, als dies derzeit durch das staatlich finanzierte Angebot möglich ist. Denn da werde er insgesamt nur wenig gefördert. „Ich bin der Einzige, der in meiner Klasse Schreibschrift kann“, merkt Frederik selbst an.

Viel Aufwand für den Schulbesuch nachmittags

Seine Mutter ergänzt: „Das Argument, das vom Schulamt uns gegenüber für die Notwendigkeit diese Art der Beschulung geäußert wurde, war der soziale Aspekt. Sinn des Schulbesuchs sei nicht die Wissensvermittlung. Doch eigentlich verhindert der Schulbesuch mit dem ganzen Aufwand und der Fahrzeit eher Frederiks soziale Kontakte.“ Zwischen Sport und Musik gebe es in der Schule obendrein eine Stunde zur freien Verfügung, „in der rein gar nichts passiert“, wie Frederik selbst beklagt. Zu Hause nutze er die Zeit, um etwa mit seinem Großvater per Skype zu lesen oder einem Freund Schach beizubringen.

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Vater Thomas Wolff schildert, aufgrund dieser Umstände hätten sie im März 2023 einen Antrag gestellt, Frederik von der Schulpflicht zu befreien oder die Webschule zur Erfüllung der Schulpflicht zu genehmigen. Das Schulamt Markdorf bat um ein ärztliches Gutachten, das liegt seit August vor.

Mit aktuellem Bildungsstand kaum ein Beruf zu finden

Passiert ist seitdem: nichts. Für die Eltern besonders brisant, da ihr Sohn aus gesundheitlichen Gründen erst mit neun Jahren eingeschult werden konnte. Stark mangelernährt und akut schwer krank, wäre er 2015 fast gestorben, musste danach vieles wieder neu erlernen und nachholen. Im Sommer wird er bereits 18, die Schulpflicht endet dann. „Wir haben Sorge, dass es dann heißt, dass sowieso keine Beschulung mehr möglich ist“, kommentiert Thomas Wolff. Mit dem aktuellen Bildungsstand sei es für Frederik schwierig, einmal einen Beruf zu finden: „Ihm wurden die Grundlagen nicht mitgegeben.“ Derzeit wird daher ein Eilverfahren anwaltlich geprüft, um das Schulamt zum Handeln zu bewegen.

Frederik möchte gerne Fotograf werden

Frederiks Traumberuf, wenn er einfach wählen könnte? Er überlegt nicht lange: „Ich möchte Fotograf werden.“ Sein Lieblingsmotiv seien Autos, verrät er. Aktuell lichtet er diese in Miniaturformat mit dem iPad oder Handy ab, aber: „Das ist sehr grisselig, wenn das Licht nicht so gut ist. Ich hätte lieber gerne eine echte Kamera.“ Doch auch mit den technischen Limits beweist er ein Gespür für Perspektiven und Bilder: Auf einem eigenen Instagram-Kanal präsentiert er seine Arbeiten.