Familie Bhatti stürzt aus ihrem Haus. Sie alle sind barfuß. Außer ihrer Unterwäsche tragen sie nichts am Leib. Es dämmert, doch der Himmel vor ihnen ist hell erleuchtet. Es ist kurz nach 6 Uhr, Mitte September. Flammen brechen aus dem Dachstuhl empor, eine schwarze Rauchwolke beugt sich darüber.

Knapp zehn Tage später bezeichnet Quaisar Bhatti den 19. September im Gespräch mit dem SÜDKURIER als „große Katastrophe“. Er könne zwar wieder etwas besser schlafen, so der Familienvater. Aber er brauche noch Zeit. „Es war Glück im Unglück. Es ist ein Glück, dass wir leben.“

Seine Familie hatte „Glück im Unglück“, wie Qaisar Bhatti rückblickend sagt.
Seine Familie hatte „Glück im Unglück“, wie Qaisar Bhatti rückblickend sagt. | Bild: Maike Stork

An jenem Morgen liegt Maria Bhatti im Bett im ersten Obergeschoss ihres Mietshauses. Sie fühlt sich fiebrig, weshalb ihre 13-jährige Tochter Mary im Erdgeschoss beginnt, das Frühstück für die Familie vorzubereiten. Plötzlich vernimmt das Mädchen ein Klack-Geräusch. Klack-klack-klack. Wie Regen. Doch es regnet nicht, wie ein Blick aus dem Küchenfenster bestätigt. Die 13-Jährige geht zum Kühlschrank und beginnt, Eier für die Familie zu kochen.

Nachbar warnt die Bhattis vor dem Feuer

Dass das Dach über ihr in diesem Moment in Flammen aufgeht, ahnt das Mädchen nicht. Auch ahnt sie nicht, dass das Zuhause ihrer Familie wenige Stunden später vollständig zerstört sein wird. Alles, was sie besitzen – Kleidung, Dokumente, Spielsachen – wird den Flammen zum Opfer fallen.

Während die 13-Jährige Brötchen in den Backofen legt, stehen ihre Geschwister Lukas und Sophie im Obergeschoss langsam aus ihren Betten auf. Plötzlich hört Mary Bhatti ein Klopfen an der Haustür, die sich am anderen Ende des Flurs, unweit der Küche, befindet. Es folgen Tritte und lautes Geschrei: „Euer Haus brennt“, ruft eine Männerstimme. „Es brennt! Kommt raus!“

Die Bhattis bemerkten das Feuer über ihnen nicht selbst, ein Nachbar alarmierte die Familie in letzter Minute.
Die Bhattis bemerkten das Feuer über ihnen nicht selbst, ein Nachbar alarmierte die Familie in letzter Minute. | Bild: Helmut Endres, Feuerwehr Owingen

Keiner der Bewohner bemerkt das Feuer

Hals über Kopf, ohne sich anziehen zu können, flieht die Familie in den Vorgarten. „Wir haben nach oben geschaut und die Flammen gesehen“, erinnert sich Qaisar Bhatti. Dass der Nachbar sie alarmiert hatte, bezeichnet der 43-Jährige als großes Glück. „Die Rauchmelder in den Schlafzimmern sind nicht losgegangen“, sagt er. Und er habe auch nichts gerochen, als das Dach bereits lichterloh brannte.

Das könnte Sie auch interessieren

Um 6.27 Uhr geht in Billafingen der Alarm los. 105 Kräfte der örtlichen und benachbarten Feuerwehren sind ausgerückt. Zu diesem Zeitpunkt wüten die Flammen schon im Ersten Obergeschoss, wo sich die Schlafzimmer von Kindern und Eltern befinden.

Das alte Bauernhaus in der Kirchstraße wurde zweifach genutzt. Im nördlich gelegenen Wohntrakt lebten die Bhattis. Den südlichen Gebäudetrakt, eine Scheune, nutzte eine Firma für CNC-Fertigung. Auch diese ist zu großen Teilen niedergebrannt. Die Bhattis leben seit 2013 in dem Haus, zwei Jahre zuvor sind sie aus Pakistan nach Deutschland geflohen.

Heute ist vom Dach des Hauses nichts mehr übrig. Direkt darunter, im ersten Obergeschoss, befanden sich die Schlafzimmer der Familie Bhatti.
Heute ist vom Dach des Hauses nichts mehr übrig. Direkt darunter, im ersten Obergeschoss, befanden sich die Schlafzimmer der Familie Bhatti. | Bild: Maike Stork

Gegen 7.30 Uhr meldet die Feuerwehr, dass sie den Brand nun unter Kontrolle hat. Weniger später stürzt der Dachstuhl krachend ein. Die freiwilligen Helferinnen und Helfer werden noch bis in die Abendstunden mit Drohnen und Wärmebildkameras nach Glutnestern suchen. Das Feuer frisst sich so tief in das alte Gebälk, dass es trotz des vielen Löschwassers am nächsten Morgen erneut aufflammt.

Heute ist das Gelände um die Brandruinen abgezäunt, der Zutritt strengstens verboten, wie ein Schild am Zaun warnt. Zu hoch ist die Gefahr eines weiteren Einsturzes. Wie die Polizei auf Nachfrage mitteilt, konnte ein Brandursachenermittler die Ursache für das Feuer bisher nicht feststellen. Der Schaden belaufe sich offenbar auf rund 3 Millionen Euro.

Die Rückseite des Bauernhauses. Neben dem Hintereingang befindet sich die Küche.
Die Rückseite des Bauernhauses. Neben dem Hintereingang befindet sich die Küche. | Bild: Maike Stork

Verlust der Gemeinschaft wiegt schwer

Doch nicht nur materielle Verluste wiegen schwer für die Bhattis: Die Familie hat in der Gemeinschaft von Billafingen Wurzeln geschlagen. Und auch die enge Bindung zu den Vermietern ist ein wichtiger Teil ihres Lebens. „Die Vermieter waren wie unsere Eltern“, sagt Qaisar Bhatti. „Sie kennen jeden Geburtstag unserer Kinder, wir hatten eine super Zeit zusammen.“

Vorübergehend können die Bhattis bei der Schwester von Maria Bhatti in Großschönach unterkommen. Von dort aus suchen die Eltern dringend nach einer neuen Bleibe. Am besten in der Region, damit die Kinder weiterhin hier zur Schule gehen können, so Qaisar Bhatti. Er arbeitet als Elektroniker in Überlingen.

Das Gelände um die Ruine herum ist bis auf Weiteres gesperrt, das Haus einsturzgefährdet.
Das Gelände um die Ruine herum ist bis auf Weiteres gesperrt, das Haus einsturzgefährdet. | Bild: Maike Stork

Lehrer sammelt Spenden für den Neustart

Um der Familie zumindest aus der finanziellen Not zu helfen, hat Ulrich Stock eine Spendenaktion im Internet initiiert. Der 60-Jährige ist Lehrer an der Wiestorschule, an der auch Mary und Lukas Bhatti unterrichtet werden. „Ich war direkt emotional betroffen, weil ich die Kinder kenne“, sagt Stock bei einem Treffen mit dem SÜDKURIER in der Gemeinschaftsschule.

Bislang sind rund 7500 Euro eingegangen. „Es reicht auch, wenn jeder nur einen kleinen Betrag gibt“, betont Stock. „Die Familie hat im Moment viele Sorgen. Ich möchte, dass Geld wenigstens keine Sorge ist.“

Großen Zusammenhalt erfahren die beiden älteren Kinder der Bhattis auch innerhalb ihrer Klassengemeinschaft. „Die Schüler fragen alle nach, wie sie helfen können“, berichtet Fatma Kabakci, Klassenlehrerin des 12-jährigen Lukas. Ein Schüler habe sogar sein ganzes Taschengeld gespart und 50 Euro in einem Briefumschlag gespendet, fügt die 29-Jährige an.

Fatma Kabakci ist Klassenlehrerin von Lukas Bhatti und unterrichtet unter anderem Französisch und islamische Religion. Ulrich Stock ist ...
Fatma Kabakci ist Klassenlehrerin von Lukas Bhatti und unterrichtet unter anderem Französisch und islamische Religion. Ulrich Stock ist Beratungslehrer und unterrichtet unter anderem Deutsch, Geschichte und Technik. | Bild: Maike Stork

Außerdem hat die Klasse Geld gesammelt, um den Kindern kleine Taschen mit Pflegeprodukten, neue Schulranzen und Gutscheinen für neues Schulmaterial zu übergeben. „Als Zeichen, dass wir da sind“, sagt Fatma Kabakci. „Und dass sie nicht allein sind.“