Herr Schneider, Sie bringen den unverstellten Blick des Neuen mit. Was fällt Ihnen auf, wenn Sie als Kunde durch Überlingen laufen?
Schneider: Eine große Auswahl an Produkten, auch in Qualitätsbereichen, die es im Hinterland nicht gibt. Dann der Wohlfühlfaktor, den man in Überlingen extra oben drauf kriegt: den Bodensee. Das ist alles schon sehr erfreulich.
Auf Facebook, in der Gruppe „Du bisch von Überlingen…“, wird aktuell munter über die Qualitäten der Einkaufsstadt Überlingen diskutiert. Kritisiert wird ein fehlender Branchenmix und das Fehlen einer großen Kette wie H&M. Wo geben Sie den Kritikern Recht?
Schneider: In ganz wenigen Punkten. Wir haben in Überlingen einen guten Branchenmix. Was uns fehlt, das ist ein großer Ankerbetrieb. Das liegt auch an Überlingens mittelalterlicher Baustruktur. Denn es fehlen großflächige Geschäftsräume, die die Ketten als Bedingung nennen. Dagegen kann Überlingen mit einer großen Zahl an eigentümergeführten Geschäften punkten, einer Vielfalt, um die uns andere Städte beneiden. Den Kritikern muss man raten: Schaut Euch die Situation im Hinterland an, da sind wir stark dagegen. Ich denke, man kann in Überlingen wirklich gut einkaufen.
Dass es einen großen Branchenmix gibt, zeigt auch der neuste, in neunter Auflage herausgegebene Einkaufsführer. Doch weil Sie aus Ravensburg stammen, Herr Schneider, möchte ich die Gelegenheit nutzen und fragen, ob Überlingen von Ravensburg als Einkaufsstadt, die regelmäßig samstags aus allen Nähten platzt, etwas lernen kann?
Schneider: Ich sehe große Parallelen. Unser Wochenmarkt funktioniert gut, der zieht die Besucher sowohl in Ravensburg als auch in Überlingen an. Doch können wir unsere Stadt nicht aufblasen. Ravensburg hat annähernd 50 000 Einwohner und ein großes Umland. Das haben wir nicht, wir haben zu einer Hälfte hin den Bodensee und im Hinterland kleinere Orte. Trotzdem haben wir ein sehr abwechslungsreiches Angebot.
Zscherp: Ich finde es schwierig, einzelne Städte miteinander zu vergleichen. Ravensburg ist ein Oberzentrum mit einem riesigen Einzugsgebiet und einem tollen Angebot. Überlingen hat eine andere Situation. Großfilialisten entscheiden nach der Einwohnerzahl und brauchen große Flächen. Die haben wir hier nicht. Was auch seine guten Seiten hat, weil wir dadurch ein buntes Sortiment an vielen inhabergeführten Geschäften vorweisen können. In größeren Städten gibt es das immer gleiche Sortiment, ein uniformes Angebot an großen Ketten. Das Schöne hier in Überlingen ist das Heimelige, man kennt sich, man kennt viele Kunden persönlich. Wir haben ein kleinflächiges individuelles Angebot und nicht Schema F.
Vor allem ein Angebot für die ältere Kundschaft?!
Zscherp: Für die Jugendlichen und Teenager gibt es in der Tat eine gewisse Unterversorgung. Wir können halt nicht alles bieten, dafür ist Überlingen zu klein.
Schneider: Ich habe mir neulich mit einem Großfilialisten alle Leerstände angeschaut. Doch unter 220 bis 250 Quadratmeter Verkaufsfläche macht er es nicht. Im Moment können wir das nicht bieten.
Herr Zscherp, Sie sind im Vorstand des Wirtschaftsverbundes Überlingen (WVÜ) für den Bereich Einzelhandel zuständig. Welche Wünsche hat der Einzelhandel an den Wirtschaftsförderer?
Zscherp: Wir sind sehr glücklich, dass Herr Schneider da ist und eine Position füllt, die wir uns schon lange gewünscht haben. Mit ihm wird uns eine starke Hand gereicht. Letztlich haben wir alle einen Betrieb zu führen und sind im WVÜ nur Hobbyaktivisten. Die vielen Zukunftsaufgaben können wir nicht alleine stemmen.
Herr Schneider zückt schon den Stift und schreibt mit: Welche Wünsche haben Sie an ihn?
Zscherp: Wir sollten überlegen, was machbar ist. Bleiben wir bei der Realität. Wichtig ist uns der stetige Kontakt mit dem Wirtschaftsförderer und dem Oberbürgermeister. Das funktioniert schon ganz gut. Unsere Fragen, die wir gemeinsam beantworten müssen, sind: Wie belebt man die Innenstadt in den besucherschwachen Monaten? Wo schafft man wieder Kurzzeitparkplätze, nachdem der Felderhausparkplatz an Privat vermietet wurde? Er hat als öffentlicher Kurzzeitparkplatz funktioniert, seine Schließung war ein großer Fehler. Weitere Fragen, die wir klären müssen: Wie definiert sich Überlingen künftig – als Gartenschaustadt, als Tourismus-, als Einkaufsstadt oder Altersruhesitz? Wir haben eine schöne Stadt am See, eine tolle große Promenade, einen guten Branchenmix. Trotzdem müssen wir uns fragen, wie wir uns künftig von anderen Städten unterscheiden. Was können wir besser? Wie schaffen wir Kooperationen untereinander und mit der Stadt, wie schaffen wir durch intelligente Zusammenlegungen größere Verkaufsflächen, was können wir von anderen Städten lernen? Es ist an der Zeit, neue Gedankenansätze nicht nur zu hegen, sondern sie auch anzugehen. Daher sind wir froh, dass Herr Schneider nun in Überlingen tätig ist und er große Erfahrung mitbringt.
Herr Zscherp, Sie sind Schuhhändler und kennen den Vorwurf, Überlingens Branchenmix sei nicht groß genug. Wie bewerten Sie das Angebot von Überlingen im Allgemeinen?
Zscherp: Für die Ortsgröße von Überlingen haben wir ein riesiges Angebot, das aufgrund des Tourismus‘ so besteht. Andere Städte in unserer Größe haben ein Drittel weniger an Geschäften und einen schlechteren Mix. In Überlingen gibt es von preisgünstig bis sehr hochwertig ein breites Angebot. Wir brauchen uns nicht zu verstecken. Es gibt gewisse Lücken, die man immer findet, wenn man im Detail danach sucht. Doch sehe ich das nicht als Kritik der Kunden, sondern die Leute machen sich Gedanken. Das ist richtig so.
Schneider: Die von der IHK vergebene Zentralitätskennziffer spricht eine eigene Sprache. Überlingen wird mit 134 Punkten bewertet. Übersetzt bedeutet das: Wir sind für umliegende Gemeinden anziehend, Überlingen erzielt einen Zentralitätsüberschuss. Alles über 100 Punkte ist gut.
Zscherp: 134 ist extrem gut.
Gibt es nähere Erkenntnisse über die Kundenströme, aus denen sich Handlungsschritte für die Zukunft ableiten ließen?
Schneider: Im Herbst wissen wir mehr. Wir haben das IFH, das Institut für Handelsforschung in Köln, mit einer Passantenbefragung beauftragt. Gefragt wird nach der Attraktivität der Einkaufsstadt, oder nach der Rolle des Tourismus für den Einzelhandel.
Was versprechen Sie sich von einem Frequenzbringer wie H&M?
Schneider: Frequenz (lacht). Er rundet das Angebot ab. Er soll andere nicht verdrängen, aber neue Kunden in die Stadt locken, die ihr Geld dann auch in anderen Läden liegen lassen.
Wie können Sie als Wirtschaftsförderer dazu beitragen, Frequenzbringer nach Überlingen zu holen, welchen Einfluss haben Sie darauf?
Schneider: Die Eigentümer, also Vermieter der Immobilien, haben den größten Einfluss. Hier sind wir wieder beim Stichwort Flächenzusammenlegung. Ich habe mit Eigentümern gesprochen, in deren Immobilien es derzeit einen Leerstand gibt, das sind acht oder neun Geschäfte. Die Ursachen hierfür sind vielfältig, doch häufig geht es um einen Generationswechsel. Es gibt niemanden, der aufgegeben hat, weil die Geschäfte schlecht liefen.
Für eine Flächenzusammenlegung müssten ja gerade zufällig zwei Leerstände gleichzeitig in direkter Nachbarschaft bestehen…
Schneider: Das wäre großer Zufall. Nein, wir raten dazu, dass sich ein aktiver Händler, neben dem ein Leerstand entsteht, Gedanken über eine Erweiterung macht. Dazu laufen derzeit Gespräche.
Wie bewerten Sie den Leerstand im Allgemeinen?
Schneider: Fünf Prozent Leerstand sind völlig normal, ab zehn Prozent bekomme ich Stirnrunzeln. In Überlingen wurden, Stand 2013, in der Innenstadt 168 Einzelhandelsbetriebe gezählt, da liegen wir mit unseren acht bis neun Leerständen in der Range. Ich will das nicht schönreden, wir haben auch einen Strukturwandel, vor allem bei den kleineren Ladenzeilen. Bei 40 bis 50 Quadratmetern tut man sich schwer, einen Mieter zu finden. Die reine Anzahl an Leerständen ist unproblematisch. Aber jeder Leerstand belastet das Gefühl, dämpft die Aufenthaltsqualität. Das ist sicherlich schwierig.
Aufenthaltsqualität ist ein gutes Stichwort. Vielfach wird eine Aufwertung gefordert.
Schneider: Ja, als Gegenstrategie zum Internethandel. Es geht darum, einen Wohlfühlraum zu schaffen. Wir sollten daran arbeiten, nicht nur die Promenade gut zu bestücken – das machen wir derzeit mit der Sanierung – sondern auch daran zu arbeiten, mehr Leute in die Stadt zu bringen.
Zum Beispiel auf die Hofstatt, die momentan von Betrieben und Büros dominiert wird, die wenig Kundenverkehr generieren.
Schneider: Deshalb denken wir darüber nach, den Wochenmarkt neu aufzustellen. Es gibt Überlegungen, die Verkaufsstände so zu gruppieren, dass sie den Zugang zu den umliegenden Geschäften offen halten.
Wie lautet Ihre Meinung dazu?
Schneider: Ich denke, ein Versuch ist es wert. Wir müssen es ausprobieren, sonst bleibt es graue Theorie.
Zscherp: In den letzten Jahren ist auf der Hofstatt einiges verpasst worden, das ist letztlich aber Vermietersache. Schön finde ich, wie die Hofstatt mit Konzerten neu belebt wird. Eine Verbesserung der Aufenthaltsqualität ist das große Thema. Das kann der Einzelhandel aber nicht alleine schaffen. Wir haben seit Jahren eine Fußgängerzone, die immer noch aussieht wie eine stillgelegte Fahrstraße. Die Fahrbahn könnte man einebnen und möblieren oder begrünen.
Schneider: Das war auch mein erster Eindruck: Ich dachte bei der Münsterstraße zuerst, es handelt sich um eine breite ruhige Straße, nicht um eine Fußgängerzone. Da gibt es sicherlich Verbesserungsbedarf. Was die Hofstatt betrifft: Sie könnte noch mehr Konzerte oder Veranstaltungen vertragen, der Landungsplatz würde entlastet. Platz ist da, wir sind mitten drin.
Zscherp: Jetzt muss ich nochmal etwas sagen zu den Kurzzeitparkplätzen. Sie fehlen uns, denn wir haben zwei verschiedene Klientel. Die einen Kunden verweilen in der Stadt, sie nutzen die Parkhäuser. Die anderen haben nur kurz etwas zu erledigen, zum Beispiel zwei Kisten Wein beim Weinhändler in der Franziskanerstraße abzuholen, oder bei uns im Schuhladen eine Bestellung. Diese Kunden fahren nicht ins Parkhaus. Man kann es mit Druck versuchen, es wird aber nicht funktionieren, dafür haben die Kunden im Umland ein zu großes Alternativangebot. Ich will auch keine neuen Verkehrsmassen in die Stadt holen, wir müssen es den Leuten aber ermöglichen, ihre Erledigungen zu machen, zum Arzt zu gehen, zu einem Dienstleister oder Freiberufler in der Altstadt. Es gibt hier ja nicht nur die Einzelhändler.
Welche neuen Ideen zur Stärkung des Innenstadthandels bringt der WVÜ mit ein?
Zscherp: Zum Beispiel die Parkvergütung, die wir seit November anbieten. Nach einer Einführungsphase machen bisher rund 35 Händler mit, 27 000 Kärtchen wurden gedruckt und in Umlauf gebracht. Es dürfen gerne noch mehr Händler mitmachen. Das System funktioniert, wir werden das jetzt offensiv kommunizieren. Es bleibt aber dabei, dass es sich um eine Aktion handelt, die nur WVÜ-Mitgliedern vorbehalten ist. Wir wollen dadurch neue Mitglieder gewinnen, Händler oder Gastronomen. Denn gemeinsam können wir viel mehr bewegen.
Eines Ihrer Anliegen innerhalb des WVÜ ist es, einheitliche Öffnungszeiten zu erreichen. Wie kommen Sie voran?
Zscherp: Das ist ein großer Wunsch, der in keiner Stadt zu verwirklichen ist. Doch wären wir schon glücklich mit einer Kernöffnungszeit, zum Beispiel durchgehend von 9.30 Uhr bis 18.30 Uhr. Ein Dorn im Auge sind mir dabei besonders die Winteröffnungszeiten. Wirtschaftlich nachvollziehbar, doch für die Kunden unbefriedigend. Wir möchten Verlässlichkeit gegenüber dem Kunden schaffen.
Wie stark ist der WVÜ, dies durchzusetzen?
Zscherp: Das Thema kommt immer wieder auf. Wir können nur etwas erreichen, wenn wir viele Gespräche führen. Wir können bitten und versuchen zu überzeugen. Zwingen können wir niemanden.
Wäre das eine Aufgabe für Sie, Herr Schneider?
Schneider: Mir geht es wie dem WVÜ. Die Stadt kann nur Empfehlungen aussprechen. Es gibt ein gewisses Verständnis für individuelle Öffnungszeiten, abhängig vom Sortiment. Kernöffnungszeiten, die für die Kunden eine Verlässlichkeit schaffen, finde ich gut.
Die Verkehrsdebatte könnte gegensätzlicher nicht geführt werden: Die einen wollen den Individualverkehr keinesfalls ausbremsen, die anderen wollen die Aufenthaltsqualität steigern, indem sie die Autos draußen halten. Wo verorten Sie sich in diesem Spannungsfeld?
Schneider: Ich habe den Nachteil, dass ich noch keinen Sommer live in Überlingen erlebt habe. Darum kann ich nicht mit ruhigem Gewissen nur ja oder nein sagen.
Ihr Chef, OB Zeitler, spricht von einer temporären Innenstadtsperrung.
Schneider: Wenn man gleichzeitig einen Lebensraum schafft für Familien, wenn man einen Erlebnistag organisiert, wenn man Räume bildet, in denen man sich ungestört entfalten kann und so aufzeigt, dass es sich lohnt, vom Parkhaus in die Altstadt zu laufen, dann halte ich eine Sperrung für sinnvoll.
Herrn Zeitler verstehe ich weitergehend, eine Innenstadtsperrung nicht nur zu bestimmten Aktionstagen, sondern immer dann, wenn die Stadt ohnehin überfüllt ist.
Schneider: Ich habe für mich gesprochen.
Bei jedem großen Wurf in der Verkehrsdebatte gäbe es so viele neue Verlierer, dass man sich – so lautet meine Prognose –nie zu großen Veränderungen durchringen wird. Die Debatte ist so alt, dass man auch mal die Frage stellen muss, ob man nicht am besten alles so lässt, wie es ist.
Zscherp: Jein. Die Verkehrsführung funktioniert momentan nicht schlecht, es gibt aber Optimierungsbedarf. Wie eine temporäre Sperrung aussehen soll, weiß niemand, vermutlich auch Herr Zeitler nicht. Ich habe Angst vor neuen Versuchen, die Stadt samstags zu schließen. Natürlich wäre eine Entlastung im Sommer schön, vielleicht erreichbar über das Parkleitsystem. Die Stadt ganz zu schließen, wie dies ideologisch diskutiert wird, hielte ich für fatal. Das ist aber nur meine Meinung, hierzu gibt es auch innerhalb des WVÜ konträre Ansichten.
Die Gesprächspartner
Stefan M. Schneider (51) ist seit Mitte November Wirtschaftsförderer der Stadt Überlingen, zuvor arbeitete er als Wirtschaftsförderer in Nürtingen. Schneider studierte in Bayreuth Wirtschaftsgeographie. Er wuchs in Ravensburg auf, lebt in Pfullendorf, ist verheiratet und hat eine Tochter aus erster Ehe.
Uwe Zscherp (49) ist in Überlingen aufgewachsen, war 17 Jahre im Schuhhandel in verschiedenen Städten beschäftigt, bevor er 2001 zurück nach Überlingen kam und das elterliche Schuhgeschäft in der Franziskanerstraße übernahm, wo er auch wohnt. Er ist erheiratet und hat drei Kinder.