Es waren dramatische Stunden, die Überlingen an jenem Mittwoch, 25. April 1945, erlebte. Zwischen 16 und 17.45 Uhr hing das Schicksal der alten Reichsstadt am seidenen Faden. Während NSDAP-Bürgermeister Albert Spreng und vernünftige Bürger die Stadt kampflos an die französischen Truppen übergeben wollten, um Strafmaßnahmen und unnötiges Blutvergießen zu vermeiden, bereitete sich der fanatische Stadtkommandant Oberstleutnant Wellenkamp auf den Verteidigungskampf vor. Mit 30 Soldaten und einer Gruppe der Waffen-SS wollte er die durch sieben Panzersperren abgeriegelte Stadt verteidigen.

Was bei Widerstand drohte, davon gibt die erste Bekanntmachung Auskunft, die Bürgermeister Spreng noch am Abend auf Befehl der Besatzer erließ, nachdem er und Stadtinspektor Julius Kitt Überlingen um 18.15 Uhr übergeben hatten. Punkt zwei lautet: „Wenn ein Einwohner auf einen französischen Soldaten schießt oder diesen angreift, werden 50 Bürger erschossen und die Stadt angezündet.“

Oswald Burger zeichnet den Tag nach

Diese letzten Stunden des Zweiten Weltkriegs in Überlingen hat Historiker Oswald Burger in den vergangenen Jahrzehnten zu den Jahrestagen immer wieder lebendig werden lassen, mehrfach innerhalb von Stadtführungen. Auch in seinem Beitrag zum Dritten Reich für die 2023 erschienene Chronik zum Stadtjubiläum schildert er diese Ereignisse detailliert. Insbesondere seine Forschungen sind Grundlage dieses Artikels zum Kriegsende am 25. April 1945. Unter den verschiedenen Zeitzeugenberichten, aus denen Burger diesen Tag nachzeichnet, ist jener von Julius Kitt der bedeutendste.

Jede Stadt hat ein spezielles Datum für das Kriegsende

Kriegsende am 25. April? Vor wenigen Wochen hielt Burger im Archäologischen Landesmuseum in Konstanz zu dessen Sonderpräsentation „Das KZ vor der Haustür“ einen Vortrag über die vier Konzentrationslager im Bodenseegebiet, die in Friedrichshafen, Überlingen, (Bad) Saulgau und Radolfzell lagen. Darin erwähnte er zu Überlingen auch das Kriegsende am 25. April. Ein Zuhörer im vollen Saal wollte den Historiker darauf triumphierend korrigieren: „Der Zweite Weltkrieg endete am 8. Mai!“ Recht geduldig vermittelte ihm Burger daraufhin, dass für jeden Ort, für jede Stadt, ein eigenes Datum gilt – es kam darauf an, wann den Franzosen eine Kommune übergeben wurde. Der 8. Mai ist offizielles Kriegsende für ganz Europa.

Granate trifft Dieter Rübsamen

Die Front kam um die Mittagszeit an, als französische Granatwerfer auf Andelshofen und auf die Luisenhöhe schossen. Dabei wurde der Schüler Dieter Rübsamen tödlich getroffen. Von Stockach kommend, rollten die französischen Panzer gegen 16 Uhr in zwei Gruppen auf die Stadt zu, am See entlang und von Norden her. Zu diesem Zeitpunkt versuchten Spreng und Kitt beim deutschen Militärkommando zu erreichen, dass die Stadt nicht verteidigt werde.

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Das lehnte Oberstleutnant Wellenkamp mit Verweis auf die Befehle Adolf Hitlers ab und bezog mit seinen Männern eine Verteidigungsstellung beim Wehrmeldeamt in der Krummebergstraße. Der Kommandant, dem als Oberbefehlshaber auch die politische Führung der Stadt unterstand, drohte: „Wer dem Feind hilft, stirbt.“ Der überzeugte Nazi war laut Burger im März als Unterabschnittsführer des Kampfraums Bodensee nach Überlingen kommandiert worden, auch um den Einwohnern damit ein klares Signal zu geben.

Bis 17 Uhr hatten die Franzosen die Stadt umstellt

Insassen des Lazaretts im ehemaligen Waisenhaus, der heutigen Franz-Sales-Wocheler-Schule, öffneten auf Weisung von Glasermeister Josef Hueber die dortige Panzersperre. Wellenkamp forderte mit vorgehaltener Pistole, die Sperren unverzüglich wieder zu schließen. Bis 17 Uhr hatten die Franzosen die Stadt umstellt. Eine Viertelstunde später rollten die ersten Panzer beim Waisenhaus über die Wiestorstraße. Die Bürger selbst hätten ihre Stadt vor der drohenden Zerstörung bewahrt, erläuterte Burger in einem Vortrag von 2016: „Einige verantwortungsbewusste und beherzte Leute zeigten den Franzosen den Weg in die Stadt.“

Die Verteidiger unter Wellenkampf beschossen die einmarschierenden Truppen vom Wehrmeldeamt aus und die Franzosen schossen zurück. Dadurch gerieten drei Häuser im oberen Bereich der Krummebergstraße in Brand. Um 18 Uhr schließlich eroberten die Franzosen die Stellung beim Wehrmeldeamt und nahmen den verwundeten Wellenkamp gefangen.

Um 18.15 Uhr wird die Stadt übergeben

In seinem Chronik-Beitrag nennt Burger die Opfer: Der Zeitungsausträger Josef Widenhorn wurde in der unteren Aufkircher Straße erschossen. Besonders tragisch sei das Schicksal des Polizisten Josef Hini. Laut schreiend und gestikulierend habe er junge Eiferer vertrieben, die sich am Ölberg verschanzt hatten – gerade als die Fahrzeuge der Franzosen von der Franziskanerstraße in Richtung Hofstatt und Rathaus einbogen. Die jungen Leute flüchteten, „doch die Franzosen missverstanden Hinis Gesten und erschossen ihn“.

Während der zwölf Jahre Nazi-Diktatur war die Hofstatt mit der Löwenzunft (rechts) regelmäßig Schauplatz großer Aufmärsche.
Während der zwölf Jahre Nazi-Diktatur war die Hofstatt mit der Löwenzunft (rechts) regelmäßig Schauplatz großer Aufmärsche. | Bild: Archiv Lauterwasser

Um 18.15 fuhr der erste Panzer auf die Hofstatt vor die Löwenzunft. Französische Offiziere begaben sich ins gegenüberliegende Rathaus, dort übergaben ihnen Spreng und Kitt die Stadt offiziell. Für Überlingen war der Zweite Weltkrieg vorbei.

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Geschichtskulisse Löwenzunft: Gustav Robert Oexles (im Auto links hinten) steile Parteikarriere und seine gute Vernetzung brachte auch Parteiprominenz an den Bodensee. Am Steuer sitzt Martin Bormann, Leiter der Partei-Kanzlei und enger persönlicher Vertrauter von Adolf Hitler. Vorne links vermutlich Ernst Hanfstaengl, Auslandspressechef der NSDAP. Wer der Mann rechts hinten ist, muss offen bleiben. Diesen Besuch einer illustren NS-Reisegruppe am 5. Mai 1935 hat der Überlinger Fotografen Siegfried Lauterwasser umfassend dokumentiert, teilweise liegen die Bilder heute im Kodak Eastman House in den USA. | Bild: Siegfried Lauterwasser in Sammlung Pfahlbaumuseum

Die Zeit der Nazidiktatur begann und endete am selben Ort, der Löwenzunft an der Hofstatt. Bau und Platz waren während des „Dritten Reiches“ vielfach Kulisse der Geschichte. Kurz nachdem die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 die Macht übernommen hatten, mietete die NSDAP das mittelalterliche Gebäude von der Stadt und brachte hier Ortsgruppen- und Kreisleitung unter.

Eine Woche, nachdem der Krieg für Überlingen vorbei war, brannte die Löwenzunft ab, in der die NSDAP die Orts- und Kreisleitung ...
Eine Woche, nachdem der Krieg für Überlingen vorbei war, brannte die Löwenzunft ab, in der die NSDAP die Orts- und Kreisleitung untergebracht hatte. | Bild: Siegfried Lauterwasser

Auf der Hofstatt wurden Aufmärsche veranstaltet und NS-Prominenz empfangen. Eine Woche nach dem Einmarsch der Franzosen, am 1. Mai, brannte die Löwenzunft bis auf die Grundmauern nieder. „Mit dem Wiederaufbau begann die Nachkriegszeit“, sagt Burger.