Am 25. April 1945 erreichten französische Panzer Überlingen. Auf der Höhe des heutigen ZOB-Bahnhofes hielten sie vor einer Barrikade. Zuvor hatten Insassen des benachbarten Lazaretts, das in der heutigen Franz-Sales-Wocheler-Schule untergebracht war, die Panzersperren kurzzeitig geöffnet, um Kriegshandlungen zu vermeiden.

Der Kampfkommandeur der Stadt, Oberstleutnant Wellenkamp, ließ allerdings mit vorgehaltener Waffe die Absperrungen wiederherstellen. Nun fielen Schüsse vom Wehrmeldeamt aus auf die Panzerspitzen und es kam, wie es kommen musste: Die Panzer eröffneten ihrerseits das Feuer auf die Stadt. Drei Häuser in der Krummebergstraße brannten durch den Beschuss nieder, das Fernmeldeamt wurde erobert und der verwundete Oberstleutnant Wellenkamp gefangen gesetzt.
Oswald Burger berichtete in seinem Vortrag im katholischen Pfarrsaal in Überlingen über die Zeit des Nationalsozialismus in der Stadt. Die letzten Stunden der NS-Herrschaft waren dabei von besonderer Dramatik. Couragiertes Handeln einzelner Überlinger Bürger verhinderten dabei das Schlimmste.
Josef Hini zeigt Courage und bezahlt dafür mit seinem Leben
Hervorzuheben ist hierbei das Schicksal des Polizisten Josef Hini. Er bemerkte, dass sich junge Männer am Ölberg vor dem Münster verschanzt hatten. Laut rufend und gestikulierend versuchte er, das Widerstandsnest in dem Moment aufzulösen, als schon Panzer bei der Münsterapotheke um die Ecke bogen. Eine französische Maschinengewehrsalve traf ihn und er bezahlte seinen Mut mit dem Leben.

Insgesamt drei Menschen starben bei der Besetzung der Stadt. Es waren die letzten Opfer, die das NS-Regime in Überlingen zu verantworten hatte. Es gab allerdings noch einen Vierten, der am Tag des Einmarsches der Franzosen in Überlingen starb. Dieser war einer der Haupttäter in der Region: Gustav Robert Oexle (1889-1945) geboren und gestorben im selben Jahr wie Adolf Hitler.
In den Stunden der Ankunft der französischen Truppen verabschiedete er sich nun von seinem Parteigenossen, Bürgermeister Dr. Spreng. Dieser war zu diesem Zeitpunkt schon aus der Partei ausgeschlossen, da er die Stadt kampflos den alliierten Truppen hatte übergeben wollen. Oexle fuhr nach Nußdorf und erschoss sich auf dem Grab seiner im Vorjahr bei einem Autounfall umgekommenen Lebensgefährtin.
Vom Ehrgeiz getrieben: Gustav Robert Oexle macht Karriere bei den Nazis
Gustav Robert Oexle war eine nationalsozialistische Schlüsselfigur in der Region: Der überzeugte und ehrgeizige Nationalsozialist hatte steil Karriere bis zum „Sonderbeauftragten im Stab des Stellvertreters des Führers“ gemacht und in seinen Funktionen immer wieder NS-Prominenz nach Überlingen geholt. In Nußdorf gründete Oexle am 1. Mai 1930 die erste Ortsgruppe der NSDAP im Bezirk Überlingen, deren erstes Mitglied und kurzzeitiger Kreisleiter er war.
Gleichschaltung im Rathaus: Auf Heinrich August Emerich folgt Albert Spreng
Bis 1933 war Dr. Heinrich August Emerich Bürgermeister der Stadt gewesen. Der Zentrumspolitiker wurde im Laufe der Gleichschaltung aus dem Amt gedrängt. Zermürbt starb er kurz darauf an einem Herzinfarkt. Sein Nachfolger, Dr. Albert Spreng, war eine widersprüchliche Person, einerseits Repräsentant des Nationalsozialismus, auf der anderen Seite im Handeln eher unideologisch und pragmatisch. Auch sein Parteiausschluss wegen des Widerstands gegen die Durchhaltebefehle Hitlers in den letzten Wochen des Regimes machte sein Wirken im Dienst des Regimes allerdings nicht ungeschehen.
NS-Hierarchie liegt wie ein Spinnennetz über der Stadt
Bis 1930 war Überlingen politisch fest in der Hand der katholischen Zentrumspartei gewesen. Erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 veränderte sich die politische Gewichtung, dann allerdings in einem atemberaubenden Tempo. Die NS-Herrschaft war streng hierarchisch gegliedert und durchzog wie ein Spinnennetz alle Bereiche des Gesellschaftlichen wie auch des Privaten.
An der Spitze der regionalen Befehlskette standen die Kreisleiter, denen wiederum die Ortsgruppenleiter unterstellt waren. In Überlingen hatte die Ortsgruppenleitung ihren Sitz in der Löwenzunft an der Hofstatt, 14 Parteifunktionäre arbeiteten dort. Hierarchisch darunter angesiedelt waren rund 100 Aktivisten in der Stadt, die als Blockleiter oder Zellenleiter die Bevölkerung kontrollierte und disziplinierte. Die Wohnverteilung der Blockwarte über das Stadtgebiet war derart dicht, dass es kein Haus gab, in dessen unmittelbarer Umgebung nicht ein Blockleiter wohnte. Die Kontrolle konnte auch deshalb so umfassend stattfinden, weil etwa jeder zwanzigste Erwachsene Mitglied in der Partei war.
Hohe Opferzahlen: 644 Menschen kamen gewaltsam ums Leben
Die Zahl der Opfer jener Zeit ist höher, als man zunächst vermutet. Oswald Burger lenkte den Blick zunächst auf diejenigen, die ursprünglich aus Überlingen stammten und auf den Schlachtfeldern des Krieges ihr Leben ließen. Aber auch Opfer der Luftangriffe, ermordete Juden und Menschen mit Behinderung oder homosexuellen Neigungen zählten zur Gruppe der Opfer, wie auch die große Zahl derjenigen, welche aus fernen Regionen nach Überlingen verschleppt wurden und als Zwangsarbeiter ihr Leben ließen. Insgesamt 644 Menschen, etwa zehn Prozent der damaligen Einwohnerzahl, kam gewaltsam ums Leben.
Drei Fragen an Oswald Burger
Wie wirkt Ihr Thema bis in die heutige Zeit?
Unser Land ist als demokratisches Gegenmodell vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gegründet worden. Sein Grundsatz, die politische Kultur und das große Gewicht, das Menschenrechte haben, sind nur vor dem fundamentalen Kulturbruch des Dritten Reiches zu verstehen. Besonders heikel ist die Beschäftigung vor Ort, in der Familie, der Nachbarschaft und im politischen Alltag.
Welchen Bezug haben Sie zum Thema?
Ich hatte über die Geschichte meiner Familie mit allen Aspekten des Dritten Reichs zu tun. Mein Vater war verstrickt in einen verbrecherischen Krieg, war zugleich der Helfer seiner jüdischen Klassenkameraden, denen er als politisch Verantwortlicher in seiner Heimat zur Flucht vor dem Holokaust nach Palästina verhelfen konnte. Meine Eltern mussten für den Eroberungskrieg der Deutschen Wehrmacht im Osten nach dem Krieg mit dem Verlust ihrer Heimat bezahlen. Als ich in Überlingen bei Maria Löhle den überlebenden KZler Adam Puntschart kennen lernte, erforschte ich sein Schicksal und das seiner Kameraden. Als Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer wollte ich das Dritte Reich nicht nur auf der Ebene des Führerhauptquartiers darstellen, sondern von unten, vor Ort erkunden.
Was hat Sie bei der Beschäftigung mit dem Thema am meisten überrascht?
Nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Goldbacher Stollen und dem Schicksal der KZ-Häftlinge, die ihn bauen mussten, erfuhr ich erst jetzt aus Akten im Stadtarchiv, wie intensiv die damalige Stadtverwaltung und insbesondere der Bürgermeister Dr. Spreng dieses Vorhaben von der Stadt fernzuhalten versuchten.