Stellen Sie sich einen Mann vor – nennen wir ihn der Einfachheit halber Hartwig Schmidt –, der gerade aus einem zwölfmonatigen Koma erwacht ist. Es geht ihm gut, er ist nur noch ein wenig schwach, sodass er sich von daheim den Berg an Zeitungen bringen lassen will, der sich in der langen Zeit angesammelt hat. Als treuer SÜDKURIER-Abonnent möchte Schmidt wissen, was er im vergangenen Jahr verpasst hat. Seine Nachbarin Hannelore Mair ist hocherfreut über sein Erwachen und lädt ihr Auto bis oben hin voll. Aufgrund der Besuchsbeschränkungen kann sie die Zeitungen lediglich an der Pforte abgeben.

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Hartwig Schmidt nimmt gerade seine erste leichte Mahlzeit ein, als das Pflegepersonal einen Stapel nach dem anderen hereinträgt. Angesichts der Menge beschließt der 67-Jährige, sich zunächst auf den Lokalteil zu beschränken, um zu wissen, was daheim in Überlingen so los war im letzten Jahr. Zum Glück hat sich seine Nachbarin wie immer vorbildlich um seine Post gekümmert und alles chronologisch sortiert. Schmidt blättert sich gerade durch die März-Ausgaben, als er plötzlich stutzt:

13. März 2020: Rektorin plädiert für Schulschließung

„Eine bedenkliche Arbeitsmoral“, wundert sich der Rentner, der schon so einiges erlebt hat. „Darauf kann sie lange warten!“ Er würde gern den ganzen Artikel lesen, doch er hat nicht daran gedacht, Frau Mair auch um seine Lesebrille zu bitten, die immer noch auf dem Tischchen neben seinem Lese- und Fernsehsessel liegt. Dann muss es eben so gehen. Wenn er vor seiner Entlassung fertig werden will, kann er sich sowieso nicht in Details verlieren. Wenig später bleibt sein Blick an einer anderen Schlagzeile hängen:

16. März 2020: Stadt schließt Hallen, Therme und mehr

„Was ist denn da los?“ Er klingelt nach Kaffee, nun braucht er etwas für seinen Kreislauf. „Hat hier keiner mehr Lust zu arbeiten?“ Der Sache muss er nachgehen. Einige Ausgaben später wird er fündig:

01. April 2020: Viele wollen Bauern bei der Ernte helfen

Schmidt schwankt zwischen Erleichterung und Verwunderung, bis sein Blick aufs Datum fällt. „Ah, der erste April! Veräppeln kann ich mich selbst.“ Er zieht eine andere Zeitung aus dem Stapel und ein Lächeln breitet sich auf seinem nicht mehr ganz so blassen Gesicht aus.

06. April 2020: Bitte an Zweitwohnungsbesitzer: Keine Anreise an Ostern

Der 67-Jährige wundert sich zwar über diese Aufforderung, kann sie aber aus ganzem Herzen unterschreiben: „Ein Spaziergang über das Landesgartenschau-Gelände ohne die Touris, das wäre traumhaft!“ Ganz in Gedanken an seinen schönen Bodensee versunken, blättert er weiter, bis er ins Stocken gerät: Hat sich da seine Nachbarin in der Sortierung vertan oder ist dem SÜDKURIER ein Fehler unterlaufen?

20. April 2020: Mit Maske zum Gemeinderat

„Das muss doch aus der Fasnet sein“, grübelt Schmidt. „Aber Tatsache, da steht April, auf Frau Mair ist eben Verlass.“ Stirnrunzelnd überfliegt der Rentner die nächsten Ausgaben, bis er sich plötzlich fast an seinem Kaffee verschluckt:

29. April 2020: Viel Zustimmung für LGS-Verschiebung

Entsetzt richtet er sich im Bett auf. Verschiebung? Zustimmung? „Was stimmt denn mit den Leuten nicht?“, grübelt er. „Vielleicht hätte Frau Mair die Zeitungen doch lieber für den Biomüll und den Kaninchenstall nehmen sollen.“ Schmidts Verwirrung weicht zunehmend der Verärgerung. Als seine Augen auf die nächste Überschrift fallen, lacht er höhnisch auf:

6. Mai 2020: Gemeinderat nimmt Arbeit wieder auf

„Schön, dass die auch mal wieder was schaffen!“ Der 67-Jährige durchkämmt den Stapel nun schneller, bis er an einem Foto hängenbleibt: Darauf ist ein relativ leerer Strand zu sehen, an dem ein paar Menschen ins Wasser gehen. Verwunderlich ist für Schmidt der Text darunter:

3. Juni 2020: Menschen, dicht gedrängt am Bodensee

„Der SÜDKURIER ist auch nicht mehr das, was er mal war!“, schimpft er vor sich hin. „Schaut da auch nur einer, was der andere macht?“ Erbost wirft der Rentner den Stapel von seinem Schoß, doch die Neugier überwiegt und er greift sich den nächsten Stoß Zeitungen vom Nachttisch.

29. Juli 2020: Bedürfnis nach Sommerferien geringer: Überlinger Schüler packen aus

„Langsam falle ich vom Glauben ab“, murmelt Schmidt. „Spielen die denn hier verkehrte Welt?“ Er lässt sich erschöpft in die Kissen sinken. Seine Augen und sein Gemüt brauchen eine Pause.

Ein Klopfen weckt ihn, als eine Pflegerin hereinkommt und sein fast unangerührtes Tablett mitnimmt. Sie reicht dem Patienten den Stapel, über den sie fast gestolpert wäre. Hartwig Schmidt nimmt die oberste Zeitung, blättert bis zum Überlinger Teil und liest die fette Schlagzeile:

10. Oktober 2020: Zelte sollen Gastronomen über den Winter retten

„Haben die kein Zuhause?“, wundert sich Schmidt. Er fragt sich, ob Überlingen überhaupt noch ein lebenswerter Ort ist. Die Lust auf die Zeitungslektüre ist ihm längst vergangen, teilnahmslos sichtet er die Ausgaben und erfreut sich an den Schneebildern und den ersten närrischen Fotos, bis ihm doch mal wieder eine Überschrift ins Auge sticht:

28. Januar 2021: Keine Fasnetsveranstaltungen im öffentlichen Raum

„Das schlägt doch dem Fass den Boden aus“, stammelt der 67-jährige eingefleischte Fastnachts-Fan. Schmidt hat schon gar keine Kraft mehr, sich aufzuregen. Etwas später liest er jedoch einen Titel, der ihn mit Genugtuung erfüllt:

11. Februar 2021: OB Zeitler wird per Urkunde abgesetzt

„Endlich, das wird aber auch Zeit nach dem ganzen Wahnsinn in unserer Stadt!“, ruft Hartwig Schmidt. Wenn Frau Mair ihn endlich besuchen kann, wird sie ihm einiges erklären müssen.