Es ist 6 Uhr morgens. Das Telefon klingelt. Maryna Perschel geht ran, es ist ihre Mutter, die da zu früher Stunde anruft. „Wir haben Krieg“, flüstert sie leise ins Telefon. Perschel kann nicht anders: Die junge Frau zuckt zusammen, schreit laut auf. Angst und Schrecken.

Wenn Perschel an Donnerstag zurückdenkt, kommen ihr die Tränen. „Ich habe gewusst, dass es passiert. Die Stimmung war in den vergangenen Wochen so voller Spannung. Und trotzdem war es ein großer Schock“, erzählt sie. Die 39-Jährige ist Ukrainerin, lebt aber seit vielen Jahren in Deutschland, nahe Stuttgart.

Das erste Mal kam sie 1995 ins Land – als sogenanntes Tschernobyl-Kind durfte sich die damals Zwölfjährige für einige Wochen in Überlingen erholen. Diese Zeit ist ihr bis heute als „schönste Zeit“ in Erinnerung geblieben. Regelmäßig ist Perschel auch heute noch in Überlingen zu Besuch, sogar ihre Mutter hat die Stadt am Bodensee bereits kennengelernt. „Ich habe Bilder von ihr am Bodensee“, erzählt Maryna Perschel und ist den Tränen nahe.

Olga Kolesnik zu Besuch in Überlingen. Im Hintergrund ist der Mantelhafen zu sehen.
Olga Kolesnik zu Besuch in Überlingen. Im Hintergrund ist der Mantelhafen zu sehen. | Bild: Maryna Perschel

An solche schönen Momente zu denken, fällt der jungen Frau momentan schwer. In der Ukraine herrscht Krieg. Und ihre Mutter, 63 Jahre alt, ist mittendrin. „Sie lebt direkt in Kiew, etwa fünf Kilometer von ihr entfernt wurde ein Hochhaus zerbombt.“ Perschel stockt. Dann spricht sie weiter: „Meine Mutter möchte in Kiew bleiben, mit ihrem Volk. Sie möchte nicht abreisen, sondern etwas bewegen.“

Maryna Perschel (rechts) mit ihrer Mutter Olga Kolesnik und einem ihrer Söhne bei einem Urlaub in der Ukraine.
Maryna Perschel (rechts) mit ihrer Mutter Olga Kolesnik und einem ihrer Söhne bei einem Urlaub in der Ukraine. | Bild: Familie Perschel

Maryna Perschel hat Verständnis für ihre Mutter. Es sei eben ihre Heimat. Auf der anderen Seite mache sie das natürlich unendlich traurig. „Es ist so mutig von ihr, aber ich würde sie so gerne herholen“, sagt sie.

„Ich habe geweint und gebetet und geweint und gebetet.“
Maryna Perschel

Seitdem der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist, steht die Welt für Perschel Kopf. Zwei Tage lang konnte sie nachts nicht schlafen, tagsüber nichts essen. „Ich habe geweint und gebetet und geweint und gebetet“, blickt Perschel zurück. „Ich war schockiert und am Ende meiner Gedanken.“ Ihre beiden Söhne seien am Freitag nicht zur Schule gegangen. Sie blieben daheim und weinten um das Schicksal ihrer Oma.

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Täglich mehrere Telefonate in die Ukraine

Wochentage sind für die Familie mittlerweile bedeutungslos. „Für mich ist kein Montag, sondern Tag fünf mit Krieg“, sagt Perschel. Mehrmals täglich telefoniere sie mit ihrer Mutter. „Mama, bist du noch am Leben?“ Wenn dann eine Antwort kommt, sei sie wenigstens kurz beruhigt. Doch gleichzeitig sind da die Sorgen, die mit jeder Stunde größer werden.

„Das Essen wird immer knapper, immer weniger Straßen sind befahrbar“, weiß Perschel. „Meine Mutter wird immer müder. Sie verbringt die Nächte auf einem Klappstuhl im Keller.“ Neben ihrer Mutter wohnen auch zahlreiche Freunde der 39-Jährigen in Kiew. Alle wollen bleiben. „Meine Freundinnen haben in den vergangenen Tagen mit angepackt, haben für die Männer an der Front gekocht. Sie helfen, kämpfen ihren eigenen Kampf für die Freiheit.“

Maryna Perschel hilft von Deutschland aus

Während die Menschen in Kiew unmittelbar im Krieg stecken, kämpft Maryna Perschel von Deutschland aus – für „ihr Volk“. Sie telefoniert, telefoniert und telefoniert. Ist in ständigem Austausch mit Menschen an der polnischen Grenze, mit Menschen, die dort helfen. „Ich kümmere mich darum, dass Privatpersonen in Deutschland Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen und stelle Kontakte her“, erzählt sie.

„Ich muss tapfer sein. Für mich, für meine Familie und für die ganze Welt.“
Maryna Perschel

Denn auch, wenn ihre Mutter und ihre Freunde nicht flüchten möchten, gebe es zahlreiche Menschen, die alles dafür geben, aus der Ukraine zu entkommen. „Vielleicht war es Gott, der mich früher hierher nach Deutschland gebracht hat. Hier kann ich helfen und dolmetschen“, sagt Perschel. Für den Moment hofft die 39-Jährige, denkt an die Menschen in der Ukraine. Sie weiß nicht, wie es in ihrem Heimatland weitergeht. Sie weiß nur eins: „Ich muss tapfer sein. Für mich, für meine Familie und für die ganze Welt.“

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