Wer sagt eigentlich pflegenden Angehörigen, dass auch sie ein Recht auf Leben haben? Dass sie mal wieder durchschlafen dürfen, ins Kino gehen, kurzfristig mal für ein paar Tage wegfahren? Vermutlich niemand.

„Die Angehörigen“, sagt Wolfgang Jauch, „sind am Ende.“ Sie stehen oft rund um die Uhr parat, um Oma, Papa, Ehemann oder andere Familienangehörige zu pflegen. Für sie gibt es in Salem jetzt eine Einrichtung, die nahezu einmalig ist in Baden-Württemberg: Eine Station für die Nachtpflege. Pflegebedürftige können hier, zur Not auch kurzfristig, für eine bis zwei Nächte abgegeben werden.

Teils sehr belastende Situationen

Wolfgang Jauch ist Vorstandsvorsitzender der Sozialstation Bodensee, einer teilstationären Einrichtung, die täglich rund 2000 Menschen in der Region am westlichen Bodensee pflegt. Die Sozialstation beschäftigt rund 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie nähmen alle wahr, in welchen teils sehr belastenden Situationen die Angehörigen sich befinden, wie sie sich selbst aufopfern und ihre eigene Gesundheit gefährden. Die Pflegekrise sei aber nur abzumildern, wenn die Angehörigen bei der Stange bleiben.

Wolfgang Jauch: „Die Angehörigen sind am Ende.“
Wolfgang Jauch: „Die Angehörigen sind am Ende.“ | Bild: Hilser, Stefan

Angehöriger will auch mal ausschlafen

Viele Angehörige, weiß Jauch, warten sehnlich auf ein Angebot wie die Nachtpflege. Unter ihnen Peter Schmitz aus Meersburg, pensionierter Diplom-Kaufmann, der bei Airbus beschäftigt war. Der 66-Jährige pflegt seit Beginn seines Ruhestands seine 95-jährige Mutter, sie ist dement und sitzt im Rollstuhl. „Ich bin gottfroh, dass es die Nachtpflege jetzt gibt“, sagt er. Er sei alleinstehend, es gebe niemanden, der zum ihm mal sagt: „Peter, schlaf dich mal aus.“

Peter Schmitz, pflegender Angehöriger: „Ich bin gottfroh, dass es die Nachtpflege jetzt gibt.“
Peter Schmitz, pflegender Angehöriger: „Ich bin gottfroh, dass es die Nachtpflege jetzt gibt.“ | Bild: Hilser, Stefan

Er pflege seine Mama sehr gerne, jeden Tag. Auf Einladungen am Abend müsse er aber verzichten, weil er seine Mutter nicht alleine lassen könne. Über Nacht wegbleiben, um die Verwandtschaft in Köln zu besuchen? Auch das ging bisher nicht. Mal spontan ins Kino gehen, oder vielleicht selbst ins Krankenhaus müssen? Für den 66-jährigen Pensionär, der noch als Mesner in der katholischen Pfarrkirche in Meersburg arbeitet, ist das alles undenkbar. Tagsüber besucht seine Mutter die Tagespflege. Aber nachts ist sie komplett auf ihn angewiesen.

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Viel zu wenig Plätze in der Kurzzeitpflege

Die einzige Möglichkeit für Menschen wie Peter Schmitz ist es, auf einen Platz in einer Kurzzeitpflege zu warten – und die ist nur theoretisch vorhanden. „Das ist aber wie ein Sechser im Lotto“, beschreibt er den Mangel an Kurzzeitpflegeplätzen im Land. Pflegedienstleiterin Ute Lenski zeigt das Dilemma auf: Gerade die Angehörigen, die Unterstützung am dringendsten benötigen, hätten nicht die Energie für zig Telefonate, um sich bei der Suche nach einem Kurzzeitpflegeplatz dann doch eine Abfuhr nach der anderen einzuhandeln.

Ute Lenski: „Gerade die, die kurzfristig eine Entlastung brauchen, können nicht noch weitere zehn Anrufe in Pflegeheimen tätigen ...
Ute Lenski: „Gerade die, die kurzfristig eine Entlastung brauchen, können nicht noch weitere zehn Anrufe in Pflegeheimen tätigen – dafür fehlt die Energie.“ | Bild: Hilser, Stefan

Die Sozialstation Bodensee hätte gerne selbst eine Kurzzeitpflege-Station eröffnet, durfte aber nicht, weil sie eine teilstationäre Einrichtung sind, begründet Wolfgang Jauch. Kurzzeitpflegeplätze seien den stationären Einrichtungen vorbehalten. Kerstin Six, die sich als Pflegebevollmächtigte für Pflegebedürftige einsetzt, kritisiert: „Das Gesetz macht da dicht. Geld wird nur an vollstationäre Einrichtungen gegeben. Fertig.“

Kerstin Six: „Wenn ich im Pflegeheim bin, habe ich halt die Angst, dass ich dort bleiben muss.“
Kerstin Six: „Wenn ich im Pflegeheim bin, habe ich halt die Angst, dass ich dort bleiben muss.“ | Bild: Hilser, Stefan

Umso glücklicher ist Jauch nun damit, dass es ihnen nach langen Verhandlungen mit den Kostenträgern jetzt gelungen ist, als eine der ersten teilstationären Einrichtungen im Land die Nachtpflege eröffnen zu können. Er kenne allenfalls noch Einrichtungen in Filderstadt oder Freiburg, sonst nirgends im Land.

Alleinstellungsmerkmal im Bodenseekreis

Kay Korstock von der AOK Baden-Württemberg, der im Namen aller Pflegekassen die Pflegesatzverhandlungen mit der Sozialstation führte, bestätigt, dass es im Land bisher praktisch keine Nachtpflege-Stationen gebe. „Die Angebote sind sehr rar gesät, und für den Bodenseekreis stellt es definitiv ein Alleinstellungsmerkmal dar.“ Warum gibt es das nicht öfter? Wolfgang Jauch erklärt es damit, dass nur ein sehr großer Pflegedienstleister den wirtschaftlichen Betrieb garantieren könne. So wie sie, die sie täglich Kontakt zu 2000 potenziellen Kunden hätten, und die Nachfrage kennen.

Dieses Brettspiel ist ihre Leidenschaft Video: Hilser, Stefan

Peter Schmitz beleuchtet einen weiteren Aspekt: Da sich die Nachtpflege in den gleichen Räumen wie die Tagespflege abspielt, wisse seine Mutter, worauf sie sich einlässt. Gegen einen Kurzzeitpflegeplatz im Pflegeheim habe sie Vorbehalte, sie fürchte sich, dort nie wieder rauszukommen. Wenn aber Margarete Schmitz mal für eine oder zwei Nächte in die Nachtpflege geht, weiß sie trotz ihrer Demenz, dass ihr Besuch nicht von Dauer sein wird, sie aber sagen kann: „Peter, schlaf dich mal aus.“