Was wäre, wenn? Als Identitätsanker der Stadt, ja als Goldreserve des kulturellen Kapitals und Anwärter auf Anerkennung durch die Unesco bezeichnet der Kulturwissenschaftler Werner Mezger die 375-Jährige Tradition des Überlinger Schwertletanzes. Doch was wäre, wenn es bei der ersten Ablehnung des Wunsches der Rebleutezunft geblieben wäre, die Stadtarchivar Walter Liehner bei seinen Recherchen jetzt erst entdeckt hatte und deren Erstveröffentlichung er dem aktuellen Vortrag Mezgers anheimstellte.

Neue Erkenntnisse aus Ratschronik

Bislang verwiesen Stadt und Schwerttanzkompanie stets auf das älteste Dokument vom 8. Februar 1646, in dem die Erlaubnis zur Aufführung des Schwerttanzes festgehalten ist. Dass diese drei Tage zuvor noch mit dem Verweis auf die Kriegszeiten versagt werden sollte, wie in einem inoffiziellen Konzept zur Reinschrift des Ratsprotokolls nachzulesen ist, war bisher nicht bekannt.

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Wenn die Antragsteller damals nicht massiv und vor allem erfolgreich Sturm gelaufen wären gegen die Ablehnung, würde in Überlingen heute wohl kein Schwerttanz aufgeführt. Es gäbe keinen Brunnen zu Ehren der Kompanie und schon gar nicht eine 375-jährige Tradition, die mit dem Vortrag Werner Mezgers zugleich gewürdigt werden sollte.

„Was macht denn der Narr da?“

Der als Fastnachtsexperte bestens bekannte Kulturwissenschaftler und Volkskundler dockte seinen aktuellen Beitrag an der ersten persönlichen Begegnung mit dem Überlinger Schwerttanz vor rund 40 Jahren an. „Was macht da der Narr?“ habe er sich damals erstaunt gefragt. Die Antwort zu der Rolle des Hänsele habe ihm eine Einheimische gegeben: „Das ist der Tote.“

Tatsächlich gehörte der Schwerttanz ursprünglich zu den Fastnachtsbräuchen, wie schon der Zeitpunkt der erstmaligen Erwähnung im Jahr 1646 deutlich macht. Wobei keiner weiß, wie der Hänsele damals ausgesehen haben mochte, erklärte Werner Mezger. Selbst das erste fotografische Dokument aus dem Lauterwasser-Archiv aus dem 19. Jahrhundert lässt nur eine entfernte Ähnlichkeit mit der heutigen Figur erkennen.

Der Volkskundler und Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Werner Mezger ist ein ausgewiesener Kenner der Fastnachtsbräuche und der ...
Der Volkskundler und Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Werner Mezger ist ein ausgewiesener Kenner der Fastnachtsbräuche und der Schwerttanzhistorie. | Bild: Hanspeter Walter Journalist-Texte-Bilder

Drei Fragen an Werner Mezger

Indessen ist der Narr als Gottesleugner in den Überlinger Annalen schon 1496 dokumentiert. Bis heute spielt er bei der Schwerttanzkompanie diese Rolle. Obwohl in der Zunftstube vom ersten Platzmeister noch mit Weihwasser gesegnet und dann mit einem Fußtritt hinausbefördert, zieht er später mit seiner Karbatsche gegen den Glauben zu Felde und schnellt am Münster gegen die liturgische Wandlung an.

„In Gott‘s Namen, geh!“ Der erste Platzmeister verpasst dem Hänsele einen Fußtritt, der später am Chor des Münsters ...
„In Gott‘s Namen, geh!“ Der erste Platzmeister verpasst dem Hänsele einen Fußtritt, der später am Chor des Münsters mit seiner Karbatsche gegen die Wandlung anschnellt. (Archivbild) | Bild: Hanspeter Walter

Korrespondierende Bräuche in nahezu ganz Europa

Vom Gottesleugner ist der Bogen zu Assoziationen mit Tod und Teufel schnell geschlagen. Dass diese Bezüge in ähnlicher Form in Brauchtum und Überlieferungen vieler Länder Europas zu finden sind, untermauerte Mezger mit einer virtuellen Rundreise zu korrespondierenden Bräuchen in nahezu ganz Europa. Eindrucksvolle Bilder aus Piemont, Sardinien und Sizilien, aus Katalonien und Polen zeigten, wie das Spannungsverhältnis zwischen Tod, Teufel und christlichem Glauben in Szene gesetzt wird.

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Nachdem er aufgrund seiner Forschungen einen breiten Überblick über hunderte von Fastnachtsbräuchen in Europa habe, könne er mit Fug und Recht sagen, dass „die Überlinger Zeugnisse zur Fastnacht zu den herausragendsten Dokumenten der abendländischen Kulturgeschichte gehören.“ Ein Narr, der für Tod und Vergänglichkeit steht und in Überlingen noch immer so verstanden werde, sei ein eindrucksvoller Beleg für eine ungebrochene ideengeschichtliche Kontinuität vom Spätmittelalter bis heute, so Mezger.

In Überlingen springen die Schwerttänzer nicht nur über die Klinge, wie der Titel des Vortrags dramatisch beschrieb. In ihrer Choreografie fangen sie den Hänsele ein und besiegen damit symbolisch zugleich das Böse. Als Siegeszeichen weht die Fahne der Stadt über dem so genannten Maschen mit dem gefangenen Narr, der am Ende allerdings wieder entkommt. Werner Mezger befriedet diese Kontroverse durch die Klänge des Narrenmarsches, die Melanie Jäger-Waldau in einem Video von Jürgen Gundelsweiler auf der Orgel des Münsters erklingen ließ.