Lebenslänglich – für Gastwirt Michael Reutlinger von „Anusch‘s Pub“ gibt es nach einer Schlägerei in seiner Kneipe, in der eine bis dahin ungeahnte Brutalität ausgeübt worden ist, nur eine Konsequenz: „Hausverbot auf Lebenszeit“, lautete Reutlingers spontan verhängtes Urteil gegen den Schlägertrupp. Drei zunächst unbekannte Täter hatten mit roher Gewalt auf andere Gäste eingeschlagen. Ein Opfer wurde, am Boden liegend, mit Fußtritten gegen den Kopf malträtiert. Für Reutlinger steht fest: Er will die Schläger nie wieder in seiner Gaststätte sehen.

Jetzt, mehr als zwei Jahre nach der Tat, beginnt vor dem Amtsgericht der Strafprozess. Angeklagt sind zwei Brüder, damals 16 und 17 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Überlingen. Hauptangeklagter ist der Lebensgefährte ihrer Mutter.

Die Tat

Mai 2022: Eintracht Frankfurt spielt im Europa-League-Finale gegen Glasgow Rangers. Frankfurt gewinnt und in Überlingen rasten die Drei aus. Die Brüder sind zur Tatzeit fast noch Kinder. Der Freund ihrer Mutter, er heißt F., ist zur Tatzeit 42 Jahre alt. Grundlos, wie das Gericht feststellt, schlägt er einen Kneipenbesucher, der mit dem Fahrrad nach Hause will, ins Gesicht. „Ich habe ihm einfach mal eine reingeschwungen“, gibt der Angeklagte zu. Es scheint ihm nicht wirklich leidzutun.

Die Täter

Die beiden Brüder heißen A. und T., sie sehen sich ähnlich, Schnauzer, Kinnbart, kräftige Statur, müde Augen. A. sagt heute vor Gericht: „Eintracht Frankfurt im Europapokalfinale. Da war man natürlich sehr stark alkoholisiert.“ Er zählt auf: „Harter Alkohol, Schnaps und Bier, unzählige Longdrinks.“ Er gibt zu, drei Personen angegriffen zu haben. „Man hat nur noch wild um sich geschlagen.“ T. bestätigt, dass auch er zugeschlagen hat. Er trägt im Prozess einen schwarzen Bauchgurt, auf dem das Emblem von Eintracht Frankfurt prangt.

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Das Opfer

Eines der Opfer ist ein Mann, der nur schlichten will. Er wird zu Boden geworfen und kassiert Tritte gegen seinen Kopf. Dass er mit einer Jochbeinprellung und einer Gehirnerschütterung relativ glimpflich davonkommt, ist das Glück der Angeklagten. Der Richter am Amtsgericht, Alexander von Kennel, sagt zu ihnen: „Seien Sie froh, dass wir keine Toten haben.“ A. und T. entschuldigen sich im Gerichtssaal bei ihrem Opfer.

Die Schlägerei vor „Anusch‘s Pub“ in der Hafenstraße ist nicht die einzige Tat. Es gibt zwei weitere: Im Mai 2022 eine Prügelei vor dem „Grünen Baum“ in Salem. Im Dezember 2022 eine Prügelei vor dem „Galgenhölzle“ in Überlingen, bei der A. eine Schreckschusspistole zückt, zwei Schüsse in die Luft abfeuert und im alkoholbedingten Übermut die Waffe auf seinen Kontrahenten richtet. Das Trio wird am Bahnhof von der Polizei aufgegriffen, T. zeigt einem Beamten den Stinkefinger.

Die Wendung

Während sich die Brüder entschuldigen, redet sich der Freund ihrer Mutter vor Gericht um Kopf und Kragen. Der ehemalige Barkeeper mit dem kantigen Gesicht trägt einen braun-grauen Anzug, spitz zulaufende Lederschuhe. Über sein Gesicht huschen nervöse Zuckungen. Er reibt sich das Kinn, gähnt immer wieder. „Ich weiß nicht, ob das hier etwas zur Sache tut“, sagt F. im Gerichtssaal, „zurzeit ist Arbeiten nicht möglich, ich habe ADHS. Ich bin emotional instabil, ich bin ein impulsiver Typ, und da sind auch andere Schrauben, wo man mal drehen muss.“ Da gehen beim Richter alle Alarmglocken an.

Gegen den heute 45-jährigen Angeklagten liegen weitere Tatvorwürfe auf dem Tisch, darunter mehrere Gewaltdelikte gegen seine Lebensgefährtin und die heimliche Installation einer Überwachungskamera in ihrer Wohnung. Wegen Einbruchsdelikten in ihrer Wohnung läuft parallel eine weitere Verhandlung am Schöffengericht in Konstanz.

Die Verfahrenstrennung

Richter von Kennel stellt die Vermutung an, dass beim Angeklagten eine fehlende Impulskontrolle vorliegen könnte, verbunden mit einer Alkoholsucht und Drogenmissbrauch. Juristisch betrachtet, könnte dies zu einer Schuldunfähigkeit und damit zu der Frage führen, ob dem Angeklagten statt mit einer Haftstrafe nicht eher mit der Unterbringung in der Psychiatrie begegnet werden sollte. Und so entscheidet das Gericht, das Verfahren gegen den 45-Jährigen abzutrennen. Bevor gegen F. der Prozess gemacht wird, sei ein psychiatrischer Sachverständiger zu befragen.

Das Urteil

So geht der Prozess gegen die geständigen Brüder A. und T. schnell über die Bühne. Er endet mit einer Verwarnung und nicht mit einer Jugendstrafe. Sie müssen jeweils 500 Euro Schmerzensgeld an eines ihrer Opfer bezahlen, sowie 200 Euro an die Organisation Ärzte ohne Grenzen. Das Urteil fällt milde genug aus, dass die beiden jugendlichen Angeklagten noch im Gerichtssaal zustimmen. Auch die Staatsanwältin ist mit dem Urteil einverstanden.

Die Begründung

Wie kann das Urteil so milde ausfallen, nachdem der Vorwurf schwere Körperverletzung lautete und die Tritte laut Staatsanwältin dazu geeignet waren, „das Leben zu gefährden“? Es ist schnell begründet: Die beiden Jungs waren vor den Taten straffrei, und sie haben sich in den zurückliegenden zwei Jahren nichts mehr zuschulden kommen lassen. Den Grund für ihr aggressives Verhalten sieht das Gericht im Umgang mit F., von dem sich die Jungs erfolgreich gelöst hätten. Auch von ihrem Vater, zu dem eine problematische Beziehung bestand, hätten sie sich distanziert.

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In beruflicher Hinsicht seien sie auf einem guten Weg. A., der ohne Schulabschluss ist, unterschrieb einen festen Arbeitsvertrag. T. absolviert eine Ausbildung. Beide beteuern, dass sie keine Säufer mehr seien, was ihnen der Richter insofern abnimmt, als sie sich keine alkoholbedingten Fehltritte mehr leisteten. Einen Besuch bei der Suchtberatung, den die Staatsanwältin forderte, verordnet Richter von Kennel deshalb nicht, sondern er baut darauf, „dass Sie hier im Gericht nicht mehr vorstellig werden“.

In „Anusch‘s Pub“ durften die Brüder wieder einkehren. F. dagegen weiß ganz genau, dass er nicht mehr willkommen ist. Im Flur vor dem Gerichtssaal sagt F.: „Ich find‘ den Reutlinger sympathisch, aber dass der mir Lebenslänglich gibt, ist nicht in Ordnung.“