Freud und Leid liegen oft dicht beieinander. Das gilt auch für die immer größer werdende Überlinger Waldrapp-Population. Der erste Nachwuchs des Jahrgangs 2023 an der künstlichen Brutwand bei Goldbach war gerade geschlüpft, als Anfang Juni der Single Ohnezahn an einem Strommast bei Markdorf zu Tode kam. Stromschläge sind die häufigste Todesursache für die mit großem Aufwand wieder angesiedelten Tiere. „In Österreich, der Schweiz und Italien sind rund 40 Prozent der Verluste durch Stromschlag verursacht“, weiß Projektleiter Johannes Fritz.
Doch es gibt auch gute Nachrichten. Inzwischen wachsen in Überlingen in sechs Nestern schon 14 Küken heran, wie Betreuerin Anne-Gabriela Schmalstieg zählte. „Es bleibt aber noch spannend“, verspricht sie. Mowgli und Marcellos erstes Küken sei erst am Montag vergangene Woche geschlüpft. Wie viele Eier das Paar ins Nest gelegt hatte, war damals noch nicht zu erkennen.
Erstmals seit 400 Jahren schlüpfen in der Schweiz Waldrappe
Eine noch größere Überraschung, ja Sensation, konnte Johannes Fritz jetzt verkünden. „Erstmals nach 400 Jahren sind in der Schweiz zwei wilde Waldrapp-Küken geschlüpft und wohlauf“, schreibt Fritz. Statt sich in Überlingen niederzulassen, hätten sich die Ibisvögel 60 Kilometer Luftlinie weiter südwestlich auf dem Fenstersims der neuen Harley-Davidson-Niederlassung in Rümlang nördlich von Zürich in der Schweiz niedergelassen. Das Gebäude unmittelbar beim Flughafen Kloten haben die beiden Elternvögel, das Weibchen Rupert und das Männchen Enea, für den Nestbau ausgewählt.
Fritz sprach von einem großen Erfolg. Im nördlichen Schweizer Alpenvorland seien geeignete Lebensräume für Waldrappe vorhanden. Er hoffe, dass das Paar die beiden Jungen erfolgreich groß zieht. Die Vogelfamilie wird jetzt mit einer Web-Kamera überwacht. Sie sind Erstbrüter und wurden als Teil der Waldrapp-Kolonie im Jahr 2018 in Überlingen (Enea) und 2019 in Heiligenberg (Rupert) ausgewildert. Im Frühjahr waren sie der Toskana zurückgekehrt. Allerdings kamen sie nicht wie sechs andere Paare dieser Kolonie an den Bodensee, sondern bauten ihr Nest in etwa 60 Kilometer Entfernung in der Schweiz.
Projektteam: Waldrappe sind eigentlich soziale Vögel
„Die Absonderung der beiden Vögel war auch für das Projektteam überraschend, da Waldrappe an sich sehr soziale Vögel sind“, erklärt Johannes Fritz: „In diesem Jahr beobachten wir Brutversuche außerhalb der Brutgebiete in Italien und in der Schweiz. Das ähnelt dem Verhalten eines Brutpaares im Partnerprojekt in Andalusien, das über Jahre abseits der Kolonie in einem Turm gebrütet hat. Inzwischen ist daraus eine kleine Satellitenkolonie entstanden. Auch die Brut im Kanton Zürich interpretieren wir als den Versuch, neue Brutareale zu nutzen.“