Die Schüler der Klasse 9b agieren in Vierergrüppchen verteilt in der Sporthalle. Es ist laut, Musik schallt aus den Boxen, die Stimmen versuchen das zu übertönen, es wird gelacht und gerufen. Nicht gerade ideale Bedingungen, um sich zu konzentrieren.

Aber genau das üben die Jugendlichen der Realschule Überlingen gerade. Beim „Störspiel“ stehen sich zwei Schüler gegenüber und zählen wie beim Pingpong im Wechsel bis vier und wieder von vorne. Dabei ignorieren sie alles, konzentrieren sich nur auf den Gegenüber und ihren Text.

„Wir können lernen, wie wir die Aufmerksamkeit kontrollieren und Impulse oder Ablenkung ignorieren“, sagt Olivia Maciejowski. Die Soziologin und Tanzpädagogin arbeitet seit vielen Jahren als Coach in der Region. Sie absolviert mit der Klasse eine besondere Projektwoche. Olivia Maciejowski hat ein Programm entwickelt, mit dem sie die „bunte Intelligenz“ der Schüler fördern will. Dabei geht es beispielsweise um den Umgang mit Krisensituationen, Stress und Angst sowie die Förderung persönlicher Kompetenzen.

Olivia Maciejowski hat das Programm Bunte Intelligenz entwickelt.
Olivia Maciejowski hat das Programm Bunte Intelligenz entwickelt. | Bild: Sabine Busse

Hilft eine Meditation vor der Klassenarbeit?

Eine Woche arbeitet sie dafür jeden Tag mit der Gruppe und holt die Jugendlichen mit Hilfe unterschiedlicher Spiele und Übungen aus ihrer Komfortzone, wie es die 14-jährige Ronja formuliert. „Es geht darum, sich etwas zu trauen. Es trotzdem zu machen, auch wenn man unsicher ist.“ Sie berichtet von der am Abend stattfindenden Aufführung. Dabei mitzumachen hätten einige aus der Klasse erst abgelehnt, aber nun wären alle dabei.

Ronja, 14, Schülerin der Realschule Überlingen.
Ronja, 14, Schülerin der Realschule Überlingen. | Bild: Sabine Busse

Ziel sei es, die Übungen in den Schulalltag zu integrieren, so Olivia Maciejowski. Die 9b mache nur den Anfang, die restlichen Stufen könnten die Inhalte durch speziell fortgebildete Lehrer und ihre Mitschüler erlernen. Wie die Techniken und Übungen dann zum Einsatz kämen, müssten Schüler und Lehrer entscheiden. Denkbar wäre eine Meditation vor den Klassenarbeiten, eine Verankerung des Störspiels im Stundenplan, Atemtraining oder Übungen zur Lokalisierung von Stress.

Für die Anwendung der Techniken in der Schule wird vor allem Sarah Mattes sorgen. Die Klassenlehrerin hat die Idee an die Schule gebracht, bei Olivia Maciejowski bereits die Fortbildung absolviert und ein Jahr die Projektwoche vorbereitet. „Alles was Olivia hier macht, können wir später übernehmen“, so Mattes. Für die finanzielle Förderung konnte sie eine Krankenkasse gewinnen, die den größten Teil der 19.000 Euro zuschießt. Der Rest stammt aus dem Programm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“ des Landes.

Emotionale Übung zum Thema Mobbing

Die Pandemie und der Unterrichtsausfall haben nicht nur für Wissenslücken gesorgt, sondern auch das soziale Miteinander der Jugendlichen beeinträchtigt und am Selbstwertgefühl genagt. Hier setzt das Programm an. Der Schüler Julian berichtet vom Vortag und einer Übung, die ihn und viele seiner Mitschüler ziemlich aufgewühlt hat. Die Klasse habe sich in Form eines Dreiecks aufgestellt mit ihm ganz vorne. „Olivia hat mich nach meinen Mobbingerfahrungen gefragt“, berichtet der 16-Jährige. Danach bat sie die Mitschüler ihm ein Feedback zu geben und seine positiven Eigenschaften zu nennen.

Julian, 16, Schüler der Realschule Überlingen.
Julian, 16, Schüler der Realschule Überlingen. | Bild: Sabine Busse

„Zum Schluss kam die Tanzsession“, sagt Julian. Er habe Bewegungen vorgegeben, die er mit seiner Lebensgeschichte verbindet und die Klasse hinter ihm folgte dieser Choreografie. „Das hat mich sehr berührt“, berichtet Julian. Nicht nur ihm seien danach die Tränen gekommen. „Da haben Leute geweint, von denen ich das nie gedacht hätte. Sich gegenseitig Komplimente zu machen, hat richtig gut getan“, zeigt sich seine Mitschülerin Nora beeindruckt von der Erfahrung.

Schülerin: „Wir sind eine andere Klasse geworden“

Auch Ronja ist Opfer von Mobbing geworden und hat darüber vor den anderen gesprochen. „Die ganze Klasse stand hinter uns!“, erzählt sie begeistert. Die Wirkung dieser Übung hätte sie unterschätzt. „Das ist übergesprungen! Wir sind seit gestern eine ganz andere Klasse geworden!“ Maciejowski lobt die Jugendlichen für ihre Offenheit: „Ich bin das Bahngleis und stelle die Weichen für euch, den Rest macht ihr.“ Sie betont, wie wichtig Emotionen für den Lerneffekt seien, vor allem in Kombination mit Bewegung. „Bewegung koppelt“, erläutert sie. „Die bunte Intelligenz setzt sich aus miteinander verzahnten Kompetenzfeldern zusammen.“

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Dabei gehe es zum Beispiel darum, den Umgang mit negativen Gedanken, Blockaden, mangelndes Selbstbewusstsein oder Stress und Ängste zu lernen. Konzentration sei nicht nur wichtig für den Unterricht und das Lernen, sondern auch für die soziale Interaktion. „Wenn jemand selbst blockiert ist, welche Art Bindungen kann derjenige dann aufbauen?“, lautet einer ihrer Denkanstöße.