Herr Dr. Thümmler, Sie reisen immer wieder in humanitärer Mission nach Indien. Erst vor Kurzem sind Sie von einer Tour zurückgekehrt.
Genau, ich war bereits zum 6. Mal mit dem Verein „Kinderfüße brauchen Hilfe“ (KbH) in Indien unterwegs. Der Verein wurde in Österreich gegründet und stellt dreimal jährlich kleine Teams von Chirurgen zusammen, die jeweils an einem bis drei verschiedenen Orten in Indien Kinder operieren. Insgesamt sind etwa zehn Ärzte in dem Verein aktiv. Auf Tour gehen wir immer im Dreier-Team.

Warum brauchen diese Kinderfüße denn Hilfe?
In der Regel handelt es sich um Kinder aus ärmsten Verhältnissen, die unter Missbildungen und Fehlstellungen der Füße, zum Beispiel Klumpfüßen, leiden und dadurch massiv eingeschränkt sind. Diese Deformitäten sehen wir bei uns fast nicht mehr, weil sie direkt nach der Geburt oder im Kleinkindalter behandelt werden. Häufig handelt es sich auch um spastische Lähmungen, die durch Komplikationen bei der Geburt entstanden sind. In Indien kommen noch immer viele Kinder zuhause und nicht in einem Krankenhaus auf die Welt, und dabei können Probleme auftreten, die dann nicht adäquat behandelt werden. Denn in Indien gibt es keine Krankenversicherung und viele Menschen sind so arm, dass sie sich nötige medizinische Behandlung nicht leisten können. Da kommen dann wir ins Spiel.

Wie geht man in Indien mit Menschen um, die solche Behinderungen haben?
Betroffene leben in der Regel im Kreis ihrer Familie und die Eltern sind häufig sehr bemüht. Aber die Einschränkungen sind oft so gravierend, dass ein eigenständiges Leben nicht möglich ist, weil gravierende Schwierigkeiten bei der Fortbewegung bestehen. Bei den Angehörigen und den Betroffenen selbst herrscht daher oft große Verzweiflung, und viele Familien haben nicht selten extreme Kosten und Mühen auf sich genommen, um alle Arten von Untersuchungen vornehmen zu lassen.

Wo sind Sie im Einsatz?
An ganz verschiedenen Orten, wenn möglich einmal im Jahr im Norden Indiens, in Kaschmir. Dieser Teil des Landes ist muslimisch geprägt, es ist eine benachteiligte Region, in der die Bevölkerung große Not leidet und von den indischen Behörden unterdrückt wird. Dieses Mal haben wir keine Einreisegenehmigung erhalten, dort, wie geplant, unsere Herbst-Mission durchzuführen, obwohl wir etwa 50 Kinder auf unserer Warteliste haben. Daher waren wir jetzt in Nagercoil ganz im Süden Indiens. Dabei handelt es sich um eine christlich dominierte Region, die wirtschaftlich bessergestellt ist.
Mit welchen Arbeitsvoraussetzungen werden Sie bei ihren Touren konfrontiert?
In Kaschmir haben wir unter regelrecht einfachen Bedingungen gearbeitet. Das Krankenhaus, in dem wir dort arbeiten ist technisch schlecht ausgestattet und die hygienischen Bedingungen sind für unsere Verhältnisse befremdlich. Das Krankenhaus in Nagercoil, in dem wir jetzt waren, war dagegen durchaus mit europäischen Verhältnissen vergleichbar. Es gab in allen Bereichen hohe Standards und die technischen und organisatorischen Voraussetzungen waren auf einem hohen Niveau.
Wie ist die Resonanz, wenn Sie an einem solchen Krankenhaus auftauchen?
Ehrlich gesagt, haben wir auch in dieser Hinsicht zwischenzeitlich ein deutliches Kontrastprogramm erlebt. Die Krankenhäuser, mit denen wir kooperieren, sind sehr offen und freundlich. Diese verdienen aber natürlich auch an uns, denn wir bezahlen für den OP-Saal , die Narkose und die stationären Behandlungen der Kinder. Und unsere Anwesenheit wird teilweise per Annonce in den Medien angekündigt, oder es spricht sich einfach in Windeseile herum. Entsprechend strömen von überall Patienten herbei. Andererseits fällt es uns aber immer schwerer, ein Krankenhaus zu finden, das uns Willkommen heißt. Die indische Oberschicht verfügt inzwischen über ein starkes Selbstbewusstsein. Zum ersten Mal hat mir bei einer Feier auch ein Mann deutlich zu verstehen gegeben, dass man in Indien nicht auf unsere Unterstützung angewiesen sei, weil man es selbst könne. Man muss auch klar festhalten, dass es nicht am medizinischen Know-How liegt, dass dort solche Fälle nicht von den einheimischen Ärzten behandelt werden können. Es fehlt schlicht an der Bereitschaft, etwas für den Teil der Bevölkerung zu tun, der sich die Behandlung nicht leisten kann.

Und wie steht es mit den Patienten?
Die Betroffenen begegnen uns in der Regel ohne Vorurteile. Sie und ihre Familien haben lange Leidensgeschichten hinter sich, und erhoffen sich von uns Hilfe. Die Dankbarkeit derjenigen, denen wir helfen können, ist immens.
Wie vielen Menschen können Sie denn in der Regel helfen?
Das ist ganz unterschiedlich. Bei der jetzigen Herbsttour haben wir in einer Woche 25 Kinder untersucht und 7 Kinder an 10 Füssen operiert. Bei meiner letzten Reise nach Kaschmir waren es über 85 Untersuchungen und 12 operierte Kinder. Nicht in jedem Fall können wir helfen, zum Beispiel wenn ein Hirnschaden die Ursache der Bewegungsstörung ist. Bei anderen Kindern wäre eine Operation zwar möglich aber nicht sinnvoll, einigen spastischen Kindern würden wir die Möglichkeiten der Körperbalance nehmen und sie könnten womöglich noch schlechter laufen als vorher. Oft genügen aber auch nur Hilfsmittel wie Rollstühle, Schienen oder neue Schuhe die wir vor Ort für die Kinder kaufen. Zuletzt sind wir durch unsere Ausrüstung limitiert. Zu unserem eigenen Gepäck haben wir einen Koffer mit 50 Kilogramm an Instrumenten, Schrauben und anderem Operationsmaterial dabei. All diese Materialien erhalten wir in Form von Spenden. Welche Fälle wir konkret operieren können, hängt somit auch davon ab, welches Material wir mitbringen.

Wie kann man Sie denn bei Ihrer Tätigkeit unterstützen?
Unsere Touren stehen und fallen mit den Spenden, mit denen wir alles finanzieren. Dabei sind wir für jeden Euro dankbar. Mit etwa 100 Euro können wir ein Kind operieren. Ich werde beispielsweise Anfang 2020 zwei Vorträge halten und auf Spenden hoffen, die natürlich in die Finanzierung fließen. Es gibt auch ein Spendenkonto. Und neuerdings ist es auch möglich, unseren Verein über Smile.Amazon.de zu unterstützen. Dabei werden 0,5 Prozent des Einkaufswerts an unser Projekt gespendet, wenn man sich entsprechend registriert hat, ohne dass es den Einkäufer auch nur einen Cent mehr als auf der „normalen“ Amazon-Plattform kostet.

Sie waren bereits sechs Mal in Indien. Was motiviert einen Arzt aus Mitteleuropa, in seinem Urlaub regelmäßig solche Projekte zu unterstützen?
Beim ersten Mal waren es Neugier und der Wunsch zu helfen. Inzwischen sind weitere Aspekte hinzugekommen: Es ist ein Stück weit Abenteuerlust, der Reiz der Herausforderung, mit anderen Berufsgruppen Probleme in Angriff zu nehmen oder einfach auszuhalten. Auch das professionelle Interesse, Dinge zu sehen, die bei uns einfach so gut wie nie vorkommen, weil sie nach der Geburt oder nach Unfällen schnell behandelt oder operiert werden. Und inzwischen sehe ich auch bei den Nachuntersuchungen die meist sehr erfreulichen Ergebnisse, das motiviert jedes mal für die nächste Tour.
Gibt es Fälle, die Ihnen besonders in Erinnerung bleiben?
Ganz besonders ist mir das Mädchen Irum hängen geblieben. Sie war vielleicht 13 Jahre alt als wir sie kennengelernt haben. Sie litt unter einer spastischen Lähmung, wodurch sie praktisch ihr ganzes Leben bettlägrig geblieben wäre, sie konnte gerade mal sitzen. Wir haben sie durch mehrere Eingriffe soweit hergestellt, dass sie jetzt gehfähig ist. Sie kann einzelne Stufen überwinden und gehen, wohin sie will. Das war eines der Schlüsselerlebnisse für mich. Überhaupt ist es ein großartiges Gefühl, wenn man Kindern auf diesem Weg den Schulbesuch ermöglichen kann.

Wie steht es denn mit dem Aspekt Sicherheit bei Ihren Reisen?
Wir sind nicht besser geschützt und werden nicht anders behandelt als hierzulande. Unsere Unterbringung ist so einfach wie möglich, um Kosten zu sparen. Je nach Entfernung reisen wir mit dem Auto oder dem Flugzeug, wenn wir unseren Arbeitsstandort verlagern. Ich denke, die größten Gefahren sind parasitäre oder Lebensmittelvergiftungen. So etwas ist in Indien an der Tagesordnung. Ansonsten gehört zu unseren einheimischen Begleitern sehr oft ein Brigadegeneral a.D.. Das erleichtert uns das Leben und gerade das Miteinander mit den örtlichen Behörden oder zum Beispiel dem Flughafen Sicherheitspersonal erheblich, die uns schon mehrfach unsere Instrumente abnehmen wollten.
Wie geht Ihre Familie damit um, dass Sie immer wieder zu humanitären Einsätzen in die Fremde reisen?
Meine Kinder finden es toll, dass ich anderen Kindern helfen kann und unterstützen dies auch mit kleinen Spenden vom Taschengeld, obwohl ich ihnen eine Woche Ferien mit mir nehme. Sie haben in der Schule schon selber Vorträge darüber gehalten. Meine Frau hält mir zu Hause den Rücken frei und organisiert die Familie. Sie lassen mich jedes Mal mit einem lachenden und einem weinenden Auge gehen. Natürlich haben sie auch Angst um mich.

Steht denn der Termin für die nächste Reise schon fest?
Ich möchte im nächsten Herbst wieder eine Woche nach Indien gehen. Der genaue Einsatzort ist noch unklar. Ich hoffe, wir können wieder nach Kaschmir. Dort sind die Rahmenbedingungen zwar am härtesten, aber die Not ist dort unübersehbar und die menschliche Wärme, die einem dort entgegenschlägt, ist einfach einmalig. Und die Dankbarkeit und Freude der Menschen zu erleben, deren Leben wir durch eine Operation verbessern konnten, erdet mich und ist eine Art Seelenreinigung. Das ändert auch die Sicht auf die Dinge, die man bei uns als Probleme wahrnimmt. Denn es gibt zahllose Menschen, die mit viel schwerwiegenderen Problemen zurecht kommen, als wir es uns auch nur vorstellen können.