In weiter Ferne, irgendwo bei Waldshut, rattert mein Zug gerade über die Gleise, da werde ich an diesem Tag bereits das erste Mal mit den Problemen der Bahnpendler konfrontiert: Es ist frühmorgens, 7.42 Uhr, am Bahnhof in Bad Säckingen. Ich stehe an einem Ticketschalter der Deutschen Bahn. Es ist eine Maschine, ausgerüstet mit modernster Technik – unheimlich klug und gnadenlos ehrlich. Der perfekte Übermittler unliebsamer Nachrichten. Ich erfahre: Der Interregio nach Basel hat bereits jetzt drei Minuten Verspätung. Ich verstaue meine Fahrkarte und schlendere mit dem unplanmäßigen Zeitpolster im Gepäck in Richtung Bahnsteig. Noch ist der Bahnhof beinahe menschenleer, nur vereinzelt ziehen müde Gesichter an mir vorbei.

Viel Ärger über die Hochrheinstrecke
Ich komme auf Gleis 2 an: Der Bahnsteig füllt sich. Ein junger Mann hat auf einer eisernen Bank Platz genommen, sein Name: Gianluca Calabretti, 21 Jahre alt, Pendler. Er trägt schwarzes Haar und eine modische Brille, von Beruf ist er Fachberater für Augenoptik. Tagtäglich fährt Calabretti von Bad Säckingen nach Lörrach – seit einem Jahr. "Man gewöhnt sich an alles", antwortet er auf die Frage, wie er die aktuelle Lage auf der Hochrheinstrecke einschätzt. Viele Berufspendler aber wollen sich an diese Zustände nicht gewöhnen, sehen die häufig überfüllten Waggons auf dieser Strecke als Zumutung. Manch einer bezeichnet sie gar als menschliche "Viehtransporte". Hinzu kommen fehlende Fahrgastinformationen, technische Probleme, gravierende Unpünktlichkeiten, so die Vorwürfe.
Ein Pendler mit Optimismus
7.59 Uhr: Einfahrt des verspäteten Zuges. Es ist ein einsamer Triebwagen in Schwarz, Gelb und Weiß, rund 50 Meter lang. Ein Schwung steigt aus, einer steigt zu. Abfahrt, denn es gilt Zeit wettzumachen. Im gut gefüllten Zuginneren finden Gianluca Calabretti und ich Platz auf den Ausklappsitzen nahe der Toilette. Es riecht, es ist laut. Calabrettis Arbeitgeber gesteht dem 21-Jährigen flexible Arbeitszeiten zu. "Wer aber einen Job hat, bei dem man pünktlich sein muss, für den ist das Pendeln hier natürlich schwierig", sagt Calabretti. Er zieht sein Smartphone aus der Hosentasche, um in der Bahn-App die momentane Verspätung des Zuges nachzuschlagen: "Immer noch drei Minuten", murmelt er. "Genügend Zeit also, um heute den Bus ab Rheinfelden zu nehmen." Verpasst hat er den wegen Verspätungen der Bahn bereits häufiger. "Dann muss ich 40 bis 60 Minuten warten, aber ich bin trotzdem Optimist", erklärt Calabretti lachend. Eine Durchsage beendet jäh unser Gespräch: "Nächster Halt Rheinfelden", kratzt es aus den Lautsprechern. "Ich muss aussteigen", sagt Calabretti. Er erhebt sich, schnappt seine Tasche und ist verschwunden.

Rund sechs Tage im Jahr auf den Schienen unterwegs
Nun als Probependler ohne Gesprächspartner unterwegs zum imaginären Arbeitsplatz in Basel, stelle ich eine Rechnung auf: 252 Arbeitstage zählt das aktuelle Jahr in der Schweiz. Abzüglich des gesetzlichen Mindesturlaubs von 20 Tagen bleiben so 232 Tage, an denen ich als deutscher Grenzgänger pendeln müsste. Fällt meine Wahl dabei auf die Bahn, schlägt die schnellstmögliche Variante zwischen Bad Säckingen und Basel gemäß Fahrplan – hin und wieder zurück – mit 38 Minuten zu Buche. Auf das Gesamtjahr 2018 gerechnet sitze ich als Bahnpendler somit 147 Stunden im Zug – etwa sechs Tage. Vorausgesetzt natürlich, er ist pünktlich, denke ich mir. Ich rechne neu: Pro Woche kommen zehn milde angesetzte Minuten Verspätung hinzu. Schon verbringe ich im Jahr acht zusätzliche Stunden auf den Gleisen, sagt der Taschenrechner meines Smartphones.
Schon vier Mal zu spät auf Arbeit
Ich blicke auf. Mir gegenüber sitzt ein junger Mann im schicken, schwarzen Anzug. Alex nennt er sich. Jeden Tag, so sagt Alex, pendelt er von Tiengen zu seinem Arbeitsplatz in Basel – etwa doppelt so lange wie in meinen Rechenspielen. Verspätungen kennt Alex aus der Praxis. Und das, obwohl er erst seit drei Monaten mit der Bahn unterwegs ist. "Vier Mal kam ich schon gravierend zu spät", ärgert Alex sich. "Langsam ist es wirklich eine Katastrophe." Dass das bei einem neuen Arbeitgeber nicht gut ankommt, weiß er. Doch er hat Glück. Auch sein Chef war einst Bahnpendler. "Der kennt das", grinst Alex. Erneut kratzt es aus den Lautsprechern: "Nächster Halt Basel. Dieser Zug endet hier." 8.19 Uhr, Ankunft in Basel mit drei Minuten Verspätung. "Damit kann ich leben", sagt Alex heute zufrieden und verabschiedet sich.

Etwa eine halbe Stunde später geht es im selben Zug zurück. Diesmal ist die Endstation Ulm. Sieglinde Kiefer, die mir gegenüber auf einem der Ausklappsitze Platz genommen hat, möchte so weit aber nicht fahren. Ihr Ziel ist Rheinfelden, erzählt die 60-Jährige, deren Haar die selbe Farbe trägt wie ihre silbernen Ohrringe. Sie hat heute bereits einen weiten Weg hinter sich, denn Sieglinde Kiefer lebt in Offenburg. Die acht Minuten von Basel nach Rheinfelden – für sie ein Katzensprung. Abends aber, auf dem Rückweg, bereitet ihr der Interregio meist Probleme: "Dieser Zug hat eigentlich immer Verspätung, dass ich meinen Anschluss in Basel verpasse", sagt Sieglinde Kiefer. Die Folge: Sie muss einen Zug früher nehmen. "Das kann eigentlich nicht sein", ärgert sie sich. Wieder der Lautsprecher: "Nächster Halt Rheinfelden." Sieglinde Kiefer erhebt sich. "Ich mache das seit zwölf Jahren", sagt sie – und gibt mir zum Abschied mit: "Seien sie froh, dass Ihnen das erspart bleibt."
Verspätung kann noch kommen
Ich blicke aus dem Fenster, vor dem das an diesem Morgen von Nebel behangene Rheintal vorbeizieht. Kurz vor Bad Säckingen steht plötzlich der Zugbegleiter vor mir, um meine Fahrkarte zu knipsen: "Aktuell keine Verspätung", antwortet er gut gelaunt auf meine Frage, ob wir meinen Zielort pünktlich erreichen. "Aber man weiß ja nie, kann ja noch kommen", schiebt er lachend hinterher. Kurze Zeit später, 9.00 Uhr, stehe ich pünktlich am Bahnsteig in Bad Säckingen.