Es war das zweite Arbeitsplatz-Beben im Schweizer Fricktal in Jahresfrist: Vor einer Woche teilte Novartis mit, dass der Konzern bis 2022 schweizweit 2150 Arbeitsplätze abbaut – 700 davon in Stein, gegenüber von Bad Säckingen. Im November 2017 hat Roche bereits 235 Stellen in der Verpackung am Standort Kaiseraugst bei Rheinfelden gestrichen. Das ergibt ein kumuliertes Minus von knapp 1000 Stellen in der Pharma-Branche.
Stellen werden umgelagert
Im Gegenzug will Novartis in Stein in den nächsten Jahren bis zu 450 Stellen für eine neuartige Therapie schaffen. Ein Teil der Mitarbeiter, die vom Abbau in Stein betroffen sind, soll umgeschult werden. Wie viele, ist derzeit noch offen. Roche hat – keine zwei Wochen nach der Abbauankündigung vom vergangenen November – sein neues IT-Zentrum in Kaiseraugst eingeweiht. 700 Mitarbeiter, die vorher in Basel tätig waren, arbeiten nun im Fricktal.
Weitere Umstrukturierungen zeichnen sich ab
Klar ist: Es werden nicht die letzten Arbeitsplatz-Beben im Fricktal bleiben. Es wird weitere Strukturbereinigungen geben, gerade auch im Bereich der niedrigqualifizierten Stellen. Denn diese Arbeiten lassen sich oft – für wesentlich weniger Geld – an Standorten außerhalb der Schweiz erledigen. Zudem agieren internationale Konzerne dynamischer als Unternehmen, die an einen oder wenige Standorte gebunden sind. Deshalb drängt sich ein Fragenkomplex auf: Wie stark hängt das Fricktal am Pharma-Tropf?
- Wie viele Arbeitsplätze bietet die Pharmaindustrie im Fricktal? Das Fricktal ist stark auf die Pharmaindustrie – korrekter: auf den Life-Sciences-Bereich – fokussiert. Dieser Bereich bietet rund 5600 Arbeitsplätze. Das ist mehr als die Hälfte der Industrie-Arbeitsplätze im Fricktal und entspricht 18 Prozent aller Arbeitsplätze in der Region, wie die NAB Regionalstudie 2016 nachgerechnet hat. Insofern hängt das Fricktal am Pharma-Tropf. Dieses Klumpen-Risiko ("Clusterbildung") wird von Politikern immer wieder kritisch beäugt oder moniert – Rezepte dagegen sind nur schwer zu finden. Zudem läuft alles auf eine weitere Fokussierung auf den Life-Sciences-Bereich heraus: Auf dem Sisslerfeld – der mit rund 100 Hektar größten Industrielandreserve im Kanton Aargau – sollen ebenfalls Life-Sciences-Firmen angesiedelt werden. Die Cluster-Bildung wird damit weiter verstärkt.
- Stimmt die Faustregel "Geht es der Pharma gut, geht es dem Fricktal gut"? Gerade die jüngsten Abbaurunden haben gezeigt, dass die jahrelang gehörten Faustregeln "Geht es der Pharma gut, geht es dem Fricktal gut" oder "Brummt der Pharmamotor, summt das Fricktal" nur (noch) bedingt richtig sind. Denn der Pharmabranche geht es derzeit äußerst gut – Novartis beispielsweise hat im vergangenen Jahr 7,7 Milliarden Franken Gewinn gemacht. Stellen werden gleichwohl abgebaut beziehungsweise ins Ausland verlagert.
- Auf welche Regionen konzentriert sich die Pharma-Branche? Das Fricktal wird oft mit Pharma gleichgesetzt. Dies ist aber gleich doppelt falsch. Zum einen liegen 82 Prozent der Arbeitsplätze außerhalb der Pharma-Tore. Zum anderen spielt die Pharma-Musik in zwei Regionen: in Kaiseraugst und in Stein/Sisslerfeld. Hier sind dafür alle Großen in der Life-Sciences-Branche aktiv: neben Novartis und Roche auch DSM, BASF und Syngenta.
- Bleibt die Pharmabranche ein Zugpferd? Derzeit deutet nichts darauf hin, dass der Pharmastandort Fricktal an sich in Gefahr ist. Im Gegenteil: Novartis hat im Jahr 2012 erst 500 Millionen Franken in den Ausbau des Werks in Stein investiert. Roche hat im vergangenen Jahr fast eine Milliarde Franken in das neue IT-Zentrum investiert. Und auch die Stellenbilanz war im vergangenen Jahr positiv. Laut einer im Februar publizierten Wirtschaftsumfrage der Aargauischen Industrie- und Handelskammer ist die Anzahl der Vollzeit-Stellen im Pharmabereich 2017 im Aargau um rund drei Prozent gestiegen. Dem Pharmabereich attestiert die Studie zudem gute Zukunftsaussichten: "Die demografische Alterung und ein global wachsender Wohlstand sorgen für eine nachhaltige Nachfragebasis."
- Ist die Wertschöpfung pro Arbeitsplatz im Fricktal hoch? Im Fricktal erwirtschaftet jeder der rund 30 000 Beschäftigten durchschnittlich 200 000 Franken. Dies zeigt die NAB Regionalstudie 2016 auf. "Das Fricktal erreichte damit nach den Regionen Lorzenebene/Ennetsee und Basel-Stadt Rang drei der 110 Schweizer Wirtschaftsregionen – noch vor Städten wie Zürich und Genf. Der Schweizer Durchschnitt liegt bei einer jährlichen Wertschöpfung von 163 000 Franken pro Beschäftigtem. Außer dem Fricktal lagen sämtliche Aargauer Wirtschaftsregionen unter diesem Schnitt.
- Ist das Fricktal Export-Meister? Eine Berechnung der "Aargauer Zeitung" zeigte im Februar: Das Novartis-Werk in Stein allein macht zehn Prozent der Schweizer Exporte aus. Die 1670 Mitarbeitenden stellen Medikamente im Wert von mehr als 15 Milliarden Franken her.
- Setzt die Pharmaindustrie stark auf Grenzgänger? Werkspezifische Angaben zu der Zahl der Grenzgänger macht Novartis nicht. Über alle Schweizer Novartis-Standorte hinweg wohnen allerdings 33 Prozent der Mitarbeiter nicht in der Schweiz. In Stein dürfte dieser Wert noch deutlich höher sein. Ein Indiz dafür ist auch die jüngste Grenzgängerstatistik. Danach arbeiten in Stein 921 Grenzgänger, im zweiten Pharma-Cluster in Kaiseraugst sind es sogar 1528. Die beiden Pharma-Hochburgen verzeichneten in den vergangenen 20 Jahren auch das klar stärkste Grenzgängerwachstum: In Stein verdreifachte sich die Zahl der Grenzgänger, in Kaiseraugst arbeiten heute rund zweieinhalb Mal so viele Grenzgänger wie noch im Jahr 1996. Insgesamt arbeiten im Aargau aktuell 13 997 Grenzgänger – jeder Zweite davon im Fricktal. Mit Abstand am meisten Grenzgänger, die im Aargau tätig sind, wohnen dabei in Deutschland: 84 Prozent stammen aus dem nördlichen Nachbarland, 14 Prozent aus Frankreich.