Frau Granacher, Sie sind Mitarbeiterin des Frauen- und Kinderschutzhauses im Landkreis Waldshut. Was ist der Frauennotruf eigentlich genau?
Granacher: Auf Beamtendeutsch sind wir eine Kriseninterventionsmaßnahme. Das heißt: Das Frauen- und Kinderschutzhaus bietet Frauen, die akut von Gewalt betroffen sind, sofortigen Schutz in Krisensituationen. Über das Frauennotruftelefon sind wir an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr erreichbar. Ruft eine Frau in einer Notlage an, nehmen wir sie und ihre minderjährigen Kinder auch mitten in der Nacht im Frauenhaus auf.
Frau Kaiser, Sie selbst sind ehrenamtliche Notruffrau der ersten Stunde. Wie kam es zum Aufbau dieses Angebots?
Kaiser: Leider findet häusliche Gewalt oft außerhalb der üblichen Bürozeiten statt – an Wochenenden, Feiertagen und nachts. Früher haben wir Notruffrauen uns noch über Funkmeldeempfänger, sogenannte Pager, organisiert. Wenn eine Frau schnelle Hilfe gebraucht hat, etwa weil sie gerade von ihrem Mann verprügelt wurde, haben Polizei oder bereits im Frauenhaus untergebrachte Frauen uns angepiept und wir mussten zurückrufen. Mit der Einrichtung des Notruftelefons im August 1995, das auch auf unsere privaten Telefonnummern umgeleitet werden konnte, wurde alles einfacher. Mittlerweile gibt es ein Diensthandy. In diesem Jahr gibt es das Notruftelefon seit 30 Jahren!
Wie vielen Frauen bieten Sie jährlich Schutz?
Granacher: 2023 lebten 39 Frauen und 59 Kinder temporär in unserem Frauen- und Kinderschutzhaus.
Wie häufig klingelt das Telefon und was sind die Anliegen?
Kaiser: Das ist ganz unterschiedlich. Manchmal klingelt es ein Mal pro Woche, in anderen Wochen sind wir drei oder fünf Mal im Einsatz. Es rufen Frauen aus allen Schichten, mit allen Konfessionen und ethnischen Hintergründen an. Alle sind akut von häuslicher, sexualisierter oder psychischer Gewalt betroffen und wollen da raus.
Wer sind die Täter?
Kaiser: In der Regel die Partner, aber auch immer wieder Eltern, Schwiegereltern oder Schwiegersöhne, die ihren Frust an Familienmitgliedern auslassen.
Rufen die Frauen immer selbst an?
Kaiser: Rund 80 Prozent der Anruferinnen sind die Frauen selbst. Aber auch Angehörige oder die Polizei ruft an, die gerade in einen familiären Konflikt eingegriffen hat. Wir sprechen dann immer erst mal mit der Frau selbst und fragen, ob sie überhaupt notuntergebracht werden möchte.
Granacher: Als Frauen- und Kinderschutzhaus sind wir stets auf der Seite der Frau, unterstützen sie in all ihren Wünschen und drängen sie zu nichts. Wenn sie Hilfe möchte, sind wir da. Sie darf es sich jederzeit anders überlegen. Sie ist erwachsen und trifft ihre eigenen Entscheidungen.
Aber ist das nicht frustrierend, wenn Sie wissen, dass eine Frau Gewalt erlebt und sich trotzdem gegen die Flucht vor dem Partner entschiedet?
Kaiser: Oft bekommen Frauen ja Schläge und Blumensträuße im Wechsel. Die Hoffnung, das alles besser wird, ist schier grenzenlos. Sie selbst muss innerlich bereit sein. Damit müssen wir uns abfinden und es so annehmen.
Wie viele Plätze bietet das Frauenhaus im Landkreis Waldshut?
Granacher: Offiziell haben wir Platz für sechs Frauen und deren Kinder, oft sind aber acht bis zehn Frauen in einer Art Wohngemeinschaft untergebracht. Die Solidarität untereinander ist groß, weil alle ähnliches durchgemacht haben. Da werden oft recht unkompliziert noch Matratzen oder Kinderbettchen in den Schlafzimmern verteilt, um allen Platz zu bieten.
Und wenn das Frauenhaus wirklich voll belegt ist?
Granacher: Dann nehmen wir sie zunächst trotzdem auf und vermitteln sie anschließend schnellstmöglich in andere Landkreise – natürlich mit Mitspracherecht. Viele haben ja Freunde oder Verwandte anderswo in Deutschland. Wir Frauenhäuser sind deutschlandweit gut vernetzt. Und es gibt auch eine Webseite (Info: www.frauenhaus-suche.de) auf der sich Frauen selbst nach Frauenhausplätzen im gesamten Bundesgebiet umschauen können.
Klingelt das Frauennotruftelefon immer nur in Notlagen?
Kaiser: Nein, immer wieder rufen Frauen an, um sich über ihre Möglichkeiten zu informieren. Viele spielen ja über Monate oder sogar Jahre mit dem Gedanken, das gewaltvolle Umfeld zu verlassen. Wir hören zu, geben erste Informationen und verweisen auf die Frauenberatungsstelle Courage in Lauchringen, die auch zum Frauen- und Kinderschutzhaus e.V. gehört und Frauen auf dem Weg in ein neues Leben begleitet. Manche rufen auch immer wieder an, die Tatsache, dass sie rund um die Uhr jemanden erreichen können, gibt ihnen Sicherheit.
Wie lange bleiben Frauen in der Regel bei Ihnen?
Granacher: Unser Credo lautet: So kurz wie möglich, aber so lange wie nötig. Es gibt sehr vieles zu organisieren, damit die Frauen auf eigenen Beinen stehen und neu anfangen können: Die Beantragung von Bürgergeld, die Suche nach Wohnraum, psychosoziale Unterstützung, um das oft traumatische Erlebte aufzuarbeiten. Unser Ziel ist die langfristige Stärkung und Stabilisierung der Frauen und Kinder.
Kaiser: Viele Frauen, die über Jahre erniedrigt wurden, denken: „Ich bin selbst schuld.“ Ich kann mich gut an eine Dame erinnern, deren Mann einen schimmeligen Joghurt im Kühlschrank gefunden hatte und sie daraufhin grün und blau geschlagen hat. Sie saß kopfschüttelnd bei der Aufnahme ins Frauenhaus und wiederholte ständig, dass sie ja selbst schuld sei. Hätte sie den Joghurt gesehen, wäre das alles nicht passiert. Diese Schuldgefühle aufzulösen, braucht oft eine lange Zeit.
Das geht Ihnen als Notruffrau doch sicher nahe?
Kaiser: Natürlich. In den 30 Jahren habe ich sehr viel erlebt, Knochenbrüche, blaue Flecken und unzählige vernarbte Messerstichwunden an Frauenkörpern gesehen. Aber als ehrenamtliche Notruffrau für die Frauen da zu sein und etwas Sinnvolles mit meiner Freizeit zu machen, gibt mir ein gutes Gefühl. Wir können oft nicht viel mehr machen als da sein.
Wie viele Notruffrauen sind im Landkreis Waldshut ehrenamtlich im Einsatz?
Granacher: Aktuell 15 – aber je mehr, desto besser. Alle bekommen spezielle Schulungen, wie Telefonseelsorge und die Arbeit im Schutzhaus funktioniert, welche Fragen sie stellen sollen, wie sie auch in Notlagen einen kühlen Kopf bewahren und wie sie die Aufnahme ins Frauenhaus dann Schritt für Schritt koordinieren.
Wie kann man den Frauenschutz im Landkreis Waldshut unterstützen?
Granacher: Wir freuen uns über weitere ehrenamtliche Notruffrauen, die sich gerne bei uns melden dürfen. Und natürlich freuen wir uns auch über Geld- und Sachspenden.