David Rutschmann

Zugegeben: Einen sonderlich zuverlässigen Eindruck macht der Angeklagte Leon (Name von der Redaktion geändert) nicht gerade. Eigentlich hätte sein Prozess schon zwei Wochen früher stattfinden sollen. Doch der 22-Jährige war zum Termin beim Amtsgericht Waldshut-Tiengen nicht erschienen. Die sechs geladenen Zeugen mussten unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen. Die Entschuldigung beim neuen Verhandlungstermin klingt etwas seltsam: „Ich wollte damals die Nacht durchmachen und bin dann doch eingeschlafen“, erklärt er nun der Richterin. Den Termin habe er wortwörtlich „verpennt“.

Ähnlich seltsam verhält sich der ganze Sachverhalt des Falls wegen dem Leon vor Gericht verantworten musste. Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich auch ein tragisches Schicksal, das von Sucht und Rausch geprägt ist.

Im Juni hatte sich eine Gruppe Jugendlicher zum Fußballspielen verabredet, als Leon aufkreuzte und mitspielen wollte. Auch wenn die Jugendlichen zunächst Bedenken hatten, ließen sie den ihnen unbekannten jungen Mann mitspielen – obwohl dieser merklich angetrunken war. „Er konnte nicht mehr gerade laufen und ist öfter hingefallen“, erinnert sich einer der Jungs.

Angeklagter wird sofort handgreiflich

Als die Gruppe gehen wollte, bemerkte Leon, dass er nicht mehr im Besitz seines Handys war. „Wer hat mein Handy?“, soll er gefragt haben. Obwohl die Gruppe Jugendlicher beteuerte, Leons Handy nicht geklaut zu haben, wurde er immer aggressiver. Einen der Jungen packte er fest am Oberarm – später bildete sich dort ein blauer Fleck – und deutete einen Schlag mit einer Glasflasche an.

Der Junge konnte sich losreißen und wegrennen, als ihm die Glasflasche am Kopf vorbeiflog. Leon soll sie ihm wütend hinterhergeworfen haben – ohne Rücksicht auf Verluste. Die Gruppe flüchtete in ein nahes Eiskaffee, in dem Passanten versuchten, die Situation zu schlichten.

Ein Gast schlug vor, das Handy von Leon anzurufen, um sicher festzustellen, dass keiner der Jungs es eingesteckt hatte. Doch Leon erinnerte sich nicht mehr an die eigene Handynummer, nur noch an die seiner Mutter.

Diese versuchte, nachdem man sie kontaktiert hatte, Leons Handy anzurufen. Die Wartezeit verbrachte Leon mit vulgären Beschimpfungen und wüsten Drohungen gegen die von ihm verdächtigten Jugendlichen. Doch es vibrierte nicht. Später stellte sich heraus, dass Leon sein Handy beim Sportplatz vergessen hatte. Es wurde in der nahen Schule abgegeben, wo Leon es wieder abholen konnte.

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Lange Latte an Vergehen – seit Jahren schwere Alkoholprobleme

Die aus dem Ausraster wegen einer fälschlichen Verdächtigung resultierenden Anzeige wegen Körperverletzung ist nicht das erste Vergehen, welches Leon zur Last gelegt wird. Zehn Einträge sind im Bundeszentralregister gelistet: Diebstahl, Beleidigung, Drogenbesitz, Körperverletzung – alles noch als Jugendlicher.

Alkohol spielte in dieser kriminellen Laufbahn eine nicht unwesentliche Rolle. Sein Vater, zu dem Leon nur losen Kontakt hat und der selbst Alkoholiker ist, soll Leon schon als Säugling mit Alkohol ruhig gestellt haben. Leon erhielt schon im Grundschulalter Schulverweise, fängt mit 13 mit Kiffen und mit 16 mit Trinken an, wie während der Verhandlung herauskommt.

Auch ein als Zeuge geladener Polizeibeamter weiß von Leons Alkohol-Enthemmungen zu berichten. Nur wenige Tage nach dem Vorfall sei Leon volltrunken in einem Linienbus angetroffen worden, er musste ins Krankenhaus transportiert werden. Seit Jahren hat er einen Betreuer und konsultiert die Suchtberatung.

„Alkohol hat bei meinem Mandanten eine besonders schädliche Wirkung“, sagte sein Verteidiger. So soll er auch bei dem Vorfall im Juni angetrunken gewesen sein – ein Rückfall nach längerer Abstinenz. Ein Sixpack Bier und eine Flasche Wein (diese soll dann auch sein Wurfinstrument gewesen sein) will er getrunken haben. „Seitdem trinke ich nicht mehr so viel“, beteuerte er.

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Seit dem Vorfall in geordneteren Verhältnissen daheim

Viel habe sich seitdem geändert: Leon hat eine feste Arbeitsstelle. „Ich bin Gastronom“, sagt der Angestellte einer Fast-Food-Kette. Sein Arbeitgeber gewährt ihm eine Betriebswohnung, er wolle sich um eine Ausbildung bemühen und damit seinen Schulabschluss nachholen. Die Verurteilung zu einer Haftstrafe würde das alles verunmöglichen: „Man würde mir kündigen und damit würde ich auch die eigene Wohnung verlieren.“

Genau eine Haftstrafe forderte allerdings die Staatsanwaltschaft: 14 Monate ohne Bewährung. Schließlich hätten die bisher angehäuften Bewährungsstrafen als Jugendlicher keine Wirkung auf Leons kriminelle Laufbahn gehabt.

Auch die Reue, die Leon beim Gerichtstermin an den Tag legte – er entschuldigte sich beim Hauptgeschädigten persönlich, zeigte sich in allen Anklagepunkten geständig und sprach von einer „dummen und gefährlichen Aktion“ – reichte der Staatsanwaltschaft nicht aus, um Leon eine gute Sozialprognose auszustellen.

Die Richterin ließ letztlich Milde walten und verhängte für Leon eine neunmonatige Freiheitsstrafe mit einer dreijährigen Bewährungszeit. An die Bewährung ist jedoch die verpflichtende Teilnahme an regelmäßigen Beratungsgesprächen mit der Alkoholberatung gebunden.

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