Dass Corona und all die damit zusammenhängenden Konsequenzen die Menschen in erheblichem Maße belasten, ist längst kein Geheimnis mehr. Die allgemeine Grundspannung, die sich in der öffentlichen Stimmung niederschlägt und sich bis in die Familien durchzieht, aber auch die nicht absehbare Dauer des gesellschaftlichen Ausnahmezustands – auch diese Faktoren machen den Menschen sehr zu schaffen.
Kliniken verzeichnen zunehmenden Behandlungsbedarf
Je länger die Pandemie andauert, desto mehr zeigen sich Folgen auch für psychische Erkrankungen. Bei niedergelassenen Ärzten und auch in Kliniken werden immer mehr Patienten mit „Long-COVID“ oder „Long-Lockdown“-Symptomen behandelt.
Auch Andreas Jähne, Chefarzt und Ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Rhein-Jura in Bad Säckingen und der Oberberg Tagesklinik Lörrach, bestätigt: „Die Unsicherheit und die Besorgnis, sich mit SARS-CoV-2 infizieren zu können und an COVID-19 zu erkranken, hat seit Beginn der Pandemie viele davon abgehalten, Hilfen, insbesondere stationäre Behandlungen in Anspruch zu nehmen.“ Gleichzeitig seien vielerorts die Behandlungsangebote noch reduziert, im stationären Bereich die Kapazitäten weiterhin eingeschränkt, denn natürlich gelte es Abstandsregeln einzuhalten, was oft mit reduzierten Gruppengrößen verbunden sei.

Die Menschen suchten jedoch zunehmend wieder medizinische und vor allem psychotherapeutische Hilfe, weil es zuhause einfach nicht mehr geht. Um den Menschen diesen Schritt zu erleichtern, um ihnen auch die Sicherheit zu bieten, die bei einer psychotherapeutischen Behandlung eine gewichtige Rolle spielt, wendet die Klinik ein ausgefeiltes Sicherheitskonzept an, um die Einrichtung – mit angepasster Bettenkapazität um die Abstandregeln zu gewährleisten – Corona-frei zu halten. Eine Teststrategie bei Mitarbeitern wie auch den neu angereisten Patienten zählt hierzu ebenso wie die weiterhin bestehenden Hygienemaßnahmen und die konsequente Umsetzung von Maßnahmen im Falle einer Infektion.
Symptome sind vielfältig
Die Symptome, mit denen es die Experten zu tun bekommen, sind unterdessen sehr vielseitig. Grob ließen sich die Patienten in drei Gruppen einteilen, schildert Jähne: Es gebe Patienten, die unter den Nachwirkungen einer Corona-Erkrankung leiden, dem sogenannten Long-Covid-Syndrom. Hierbei handle es sich um eine stetig wachsende Gruppe, denn natürlich haben mit zunehmender Dauer der Pandemie auch immer mehr Menschen mit den körperlichen und psychischen Folgen der Krankheit zu kämpfen. Auch an der Oberberg Fachklinik Rhein-Jura werde daher seit einiger Zeit ein spezielles Behandlungsprogramm für diese Menschen angeboten, so Jähne.
Ein weites Feld stelle auch die Gruppe derer da, die aus Angst vor einer Ansteckung wichtige Behandlungen, insbesondere im Bereich der Vorsorge, unterlassen oder abgebrochen haben und nun unter den Folgen leiden. Dies betreffe körperliche Beschwerden genauso wie psychische Erkrankungen: „Gerade während der ersten Welle hatten viele Menschen Angst und haben nur in akuten Fällen ärztliche Hilfe in Anspruch genommen.“ Das ziehe eine ganze Kette an Konsequenzen nach sich, die die Kliniken jetzt massiv beschäftige.
Lockdown und Beschränkungen verstärken Probleme
Groß sei aber auch die Anzahl an Patienten, deren Beschwerden auf Corona-Maßnahmen wie den langen Lockdown oder Kontaktbeschränkungen zurückzuführen sind. „Wir haben es hier mit einer großen Bandbreite psychischer Probleme zu tun“, schildert Jähne. Es gebe Burnout infolge von Überlastungen, etwa weil Eltern neben beruflichen Unwägbarkeiten auch noch Homeschooling und dergleichen mitorganisieren mussten.
Gerade im Fall von jungen Erwachsenen sei es zu Vereinsamungstendenzen gekommen, in der Folge zu Depressionen und ähnlichen Phänomenen. „Es war natürlich für die Leute besonders hart, die wegen Ausbildung oder Studium in eine neue Stadt gezogen sind, und dann plötzlich nur noch über ihren Computer Kontakt zu anderen Leuten hatten.“ Glücklich hätten sich diejenigen schätzen können, die dann die Möglichkeit gehabt hätten, wieder zurück zu ihren Eltern ziehen zu können.
Suchterkrankungen und Folgeprobleme
Aber gerade auch auf Jähnes Spezialgebiet, den Suchterkrankungen, hätten sich erhebliche Negativ-Folgen ergeben: „Es geht nicht zwangsläufig um Probleme, die erst während der Pandemie entstanden sind. Aber häufig haben sich bereits vorhandene Probleme noch verstärkt“, betont Jähne. Es habe an Ventilen gemangelt, um aufgestauten Druck abzulassen, aber auch an festen Tagesstrukturen oder sozialer Kontrolle. „Tatsächlich hat es ja lange Zeit gar keinen Grund gegeben, überhaupt das Haus zu verlassen“, schildert Jähne.
Für Menschen mit einem Suchtproblem oder auch nur entsprechenden Tendenzen sei dies eine ungünstige Konstellation gewesen, die zunehmend zu Schwierigkeiten geführt habe – und häufig auch weitere Probleme nach sich zieht: „Gerade in der Lockdown-Situation sind auch Aggressionen erwachsen. Familien waren praktisch wochenlang eingesperrt. Schulen waren zu, Betriebe haben auf Homeoffice umgestellt, in der Anfangszeit waren nicht einmal Spielplätze geöffnet, von Vereinsaktivitäten ganz zu schweigen. Es gab praktisch keine Möglichkeiten mehr, sich aus dem Weg zu gehen.“ Das habe im Extremfall zu einer Zunahme häuslicher Gewalt geführt – erst recht, wenn in dieses Szenario auch noch erhöhter Alkoholkonsum oder ähnliches eingeflossen sei.
Angehörige vor großen Herausforderungen
Im Umgang mit Suchtkranken rät der Experte Angehörigen immer zu einem „Mittelweg zwischen Nicht-Tolerieren und Mut machen“, wie er es nennt: Betroffene bräuchten eine Rückmeldung, dass ihr Verhalten nicht mehr in Ordnung sei, dass etwa die Menge des konsumierten Alkohols das normale Maß übersteige. Zugleich seien derartige Themen aber auch sehr schambehaftet: „Es ist von großer Bedeutung, dass man nicht nur Vorwürfe äußert, sondern auch Wege aus der Krise weist.“ Notfalls müsse dies auch so konsequent formuliert werden, dass es in einer Therapie mündet.
Den Aspekt der Sucht als Fluchtversuch in schwierigen Zeiten hat Jähne übrigens auch in einem Buchprojekt beleuchtet, das er gemeinsam mit renommierten Experten veröffentlicht hat. Es trägt den Titel „Psychische Erkrankungen – und die Auswirkungen einer Pandemie“.
Darin befassen sich Experten unterschiedlicher Fachbereiche mit den Folgen der Corona-Krise: „Es soll vor allem auch Menschen außerhalb der Fachkreise ansprechen“, sagt Jähne. Und es solle Betroffenen dabei helfen, sich Hilfe zu suchen, denn noch immer seien psychische Erkrankungen für viele Menschen ein derartiges Tabu-Thema, dass sie notwendige Therapien aus Angst nicht wahrnehmen.
Doch wie sehen unter den aktuellen Bedingungen die Perspektiven aus? „Generelle Aussagen zu treffen, wann wieder mit einer Normalität zu rechnen sei, ließen sich jedenfalls im Moment nicht treffen. Denn dafür sei momentan noch zu vieles im Fluss. Aber: „Es ist absehbar, dass auf viele Menschen noch sehr viel Arbeit warten wird, denn je länger das alles dauert, desto mehr schieben wir eine Folgewelle vor uns her.“