Besonders viele Eltern fragen sich: Wann wird mein Kind wieder einen Alltag haben? Keinen „normalen Alltag“, sondern ganz generell die Möglichkeit, sich kindgerecht entwickeln zu dürfen. Denn Kinder und Jugendliche sind von der Pandemie in besonders hohem Maß betroffen – nicht aufgrund von Covid-Erkrankungen, sondern aufgrund der Maßnahmen. Und die Isolation hat bereits jetzt negative Folgen.
Davor warnt Kinderarzt Jochen Sperling aus Wehr: „Verschiedene Umfragen und auch meine persönlichen Erfahrungen belegen, dass etwa 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen durch die Corona-Krise seelisch belastet sind. Die seelische Gesundheit einer ganzen Generation ist gefährdet und das mit ungeahnten Langzeitfolgen!“

Zurückzuführen sei dies auf das plötzlich stark veränderte Verhalten, das von Kindern und Jugendlichen gefordert wird: Isolation statt Sozialkontakte, Abstand statt Nähe zueinander, sich daheim zurückziehen statt hinauszugehen und gemeinsam die Welt zu entdecken.
Von Schlafstörungen bis hin zu depressiven Episoden
„Für die Kinder und Jugendlichen ist es der Umbruch der vertrauten Alltagsstruktur“, bestätigt auch Dieter Scheibler, Leiter der psychologischen Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Caritas Hochrhein in Bad Säckingen. Die Einrichtung habe gleichlaufend viele Beratungen, da der Kontakt zu den Familien flexibel auf die Notwendigkeiten im Einzelfall abgestimmt und gemäß den Schutzerfordernissen gestaltet sei.
Scheibler beschreibt neben den Problemen beim Homeschooling durch Internetprobleme und auch den zum Teil nur eingeschränkten Zugang zur Hardware – trotz des hohen Engagements der Schulen: „Die Kinder und Jugendlichen vermissen die sozialen Kontakte zu ihren Mitschülern und Freunden, das unbeschwerte Miteinander; so ist der Ausfall der Freizeitaktivitäten – Sport, Fitness und andere Gruppenaktivitäten – ein sehr schmerzlicher Verlust in dieser Zeit der Pandemie.“
Und das wirkt sich ganz direkt aus, wie Kinderarzt Sperling erklärt: „Die Kinder verbringen deutlich weniger Zeit mit Schulaufgaben und deutlich mehr Zeit mit sozialen Medien und Online-Spielen. Nebenbei bemerkt, ist der Lernstoff im Schuljahr nicht mehr zu vermitteln.“ Als Folgen nennt der Kinderarzt Angst, Reizbarkeit, Schlafstörungen und depressive Episoden. „Auch psychosomatische, also organisch nicht erklärbare Kopf – und Bauchschmerzen sind häufige Symptome.“ Und er weist auf ein weiteres ungesundes Verhalten hin: „Zuhause wird in der Regel mehr gegessen. Wir sehen das leider auch auf der Waage in der Sprechstunde. Übergewicht mit entsprechenden Langzeitfolgen droht.“
Wie lässt sich Kindern und Jugendlichen helfen?
Tipps von Kinderarzt Jochen Sperling:
Für den Wehrer Kinderarzt sind die Langzeitfolgen sehr ernst zu nehmen: „Die nächste Pandemie umfasst Angst-, Kontakt- und Zwangsstörungen, Depressionen, narzisstische Persönlichkeitsstörungen, Mediensucht, Immunschwäche und Übergewicht. Es werden neue Risikogruppen entstehen.“
Sperling spricht von den „andauernden ungeeigneten Maßnahmen der Bundesregierung„, von denen in Deutschland rund 13,5 Millionen Kinder und Jugendliche betroffen sind. „Wir fügen dieser Generation erheblichen Schaden zu, in dem wir sie vom Alltag in der Gemeinschaft, ohne plausible wissenschaftliche oder praktische Begründung, ausschließen. Die Isolation wird somit auf Verdacht angeordnet“, so Sperling. Er kritisiert, dass während der Corona-Pandemie „als erster Reflex“ Kindergärten und Schulen geschlossen worden sind. Er beruft sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse und ergänzt: „Wir wissen jedoch, dass Kinder nicht die Treiber oder Brandbeschleuniger der Pandemie durch Covid-19 sind, so wie wir das vielleicht bei der echten Grippe – der Influenza – in Erinnerung haben.“
Ist der aktuelle Lockdown härter als im Frühjahr 2020?
Psychologe Dieter Scheibler von der Caritas bestätigt: „Wenn wir auf die Familien mit wenig sozialen Ressourcen schauen, etwa Alleinerziehende mit mehreren Kindern oder Familien in besonders schwierigen Lebenslagen, dann sehen wir eher eine Verdichtung der Belastungen. Corona, die Unsicherheit, die existentielle Angst legen sich dann zusätzlich auf die Problematik, die ohnehin schon da war – oder bildlich: Corona sitzt immer im Nacken und schwebt als dunkle Wolke über den Köpfen.“

Die Erfahrung vom Frühjahr 2020 könne sich dann nicht positiv wenden in ein „Das-schaffen-wir-schon“. „Es besteht das Gefühl eines endlos kraftzehrenden Geschehens, das außerhalb der eigenen Kontrolle liegt. Psychische Nöte, Ängste, depressive Verstimmungen kristallisieren sich deutlicher heraus.“
Eine Musterlösung, Stress in der Familie zu reduzieren, gebe es nicht, aber Scheibler nennt eine Strategie: „Es gibt oftmals etwas Schönes, was man sich als Familie wieder mal vornehmen kann. Etwas, was lange zurückliegt vielleicht: ‚Das haben wir doch mal gemacht. Das machen wir wieder zusammen.‘“ Er rät außerdem, zu schauen, wie das Familienleben neben den Verlusten im bisherigen Alltag neu belebt werden kann. „Viele haben das Spielen miteinander wiederentdeckt, oder im Sommer das Radfahren. Das ist individuell, es geht aber immer wieder darum, Zwischenräume, ‚Inseln der Entspannung‘ zu sehen, sie sich bewusst zu machen und dann zu pflegen.“
Von Familie zu Familie sei dies sehr unterschiedlich und manchmal auch sehr schwer, wie Scheibler erklärt: „Dann geht es ums Halten und ‚Aushalten‘. Das Sprechen miteinander – so auch mit uns in der Beratung kann eine Entlastung sein, indem die ja stimmigen, berechtigten Gefühle von Ärger, Hilflosigkeit oder Traurigkeit wahrgenommen, artikuliert werden und damit in der Anerkennung und Resonanz eine Form finden.“
Kinderarzt Jochen Sperling gibt zu bedenken: „Wir werden in den nächsten Jahren mit dem Virus leben müssen, so, wie mit anderen Atemwegsinfektionen auch. Nach erfolgreicher Impfstrategie wird die Krankheit für die meisten Menschen ungefährlich sein. Und das ist der Punkt, der bestenfalls zu erreichen ist.“ Er fasst zusammen: „Die wahren Helden der Pandemie sind inzwischen Kinder, Jugendliche, Mütter, Väter, aber auch Friseure, Kosmetikerinnen, Gastwirte und Einzelhändler! Was man Euch zumutet, ist praktisch nicht wieder gut zu machen.“