In gut einem Jahr soll sich der Alltag von Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, verbessern. Zum 1. Januar 2022 tritt eine 2013 beschlossene Änderung des Personenbeförderungsgesetzes in Kraft, die besagt, dass der öffentliche Nahverkehr vollständig barrierefrei sein muss. Dass dies mit der Realität wenig zu tun hat, zeigt das Beispiel Rheinfelden. Die Verwaltung hat eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. Würden alle 159 Bushaltestellen umgestaltet, würde das mehr als vier Millionen Euro kosten.
Die Ausgangslage
2013 hat der Gesetzgeber die Anpassung des Personenbeförderungsgesetzes beschlossen. Bis 1. Januar 2022 muss der ÖPNV vollständig barrierefrei sein. Dies betrifft etwa die Fahrzeuge, die Art, wie informiert und kommuniziert wird und die Dienstleistungen. Während dafür die Verkehrsbetriebe verantwortlich sind, müssen sich die Kommunen mit der Infrastruktur beschäftigen. „Als Baulastträger sind Sie zuständig für die Bushaltestellen“, so Diplomingenieur Florian Krentel vom Büro Fichtner, das eine Machbarkeitsstudie zum barrierefreien Umbau der Haltestellen vorgenommen hat.
Im Bau- und Umweltausschuss erläuterte er, was das konkret bedeutet. „Barrierefreiheit betrifft nicht nur Menschen, die im Rollstuhl sitzen“, schickte Krentel vorweg. Sondern auch Kinder, Senioren oder sehbehinderte und gehörlose Menschen. Deshalb seien die Anforderungen an eine barrierefrei gestaltete Bushaltestelle hoch. So müsse die Bordsteinkante beziehungsweise das sogenannte Hochbord mindestens 18 Zentimeter hoch sein. In den Haltestellenbereichen müsse es ein taktiles Leitsystem für Menschen mit Sehbehinderungen geben. Auch müsse die sogenannte Aufstellfläche mindestens einen Meter breit sein, sodass Rollstuhlfahrer rangieren können. Auch zur Länge der Haltestelle gebe es Vorschriften: Sie müsse mindestens so lang sein, dass der Fahrgast an der ersten und der zweiten Tür einsteigen kann. Allein dieser Punkt sei für eine Stadt wie Rheinfelden heikel. Denn hier halte alles, vom Kleinbus „bis zum Reisebus“, merkte Oberbürgermeister Klaus Eberhardt an.
Die Studie
In der Studie wurden alle 159 Haltestellen in der Stadt und den Ortsteilen begutachtet und je ein Steckbrief erstellt: Wie breit sind die Warteflächen? Wie hoch sind die Bordsteinkanten? Gibt es Sitzgelegenheiten? Zudem wurde für jede Bushaltestelle geprüft, ob sie prinzipiell überhaupt barrierefrei umzubauen ist. Gegen einen Umbau sprechen zum Beispiel zu starke Steigungen der Fußwege, weil Rollstuhlfahrer gar nicht erst bis zur Haltestelle gelangen können.
Das Fazit
Von den 159 Bushaltestellen könnten 139 umgebaut werden. Einige mit geringem Aufwand, den Krentel in Abstimmung mit der Verwaltung mit Kosten von bis zu 20.000 Euro bezifferte, andere mit sehr hohem Aufwand (angenommen: 175 000 Euro). Gemeinsam mit den Verkehrsbetrieben wurden die Haltestellen nach Wichtigkeit priorisiert. In die erste Kategorie fallen fünf Haltestellen, etwa die am Busbahnhof oder am Oberrheinplatz. In die zweite je eine in den Ortsteilen sowie an wichtigen Einzeleinrichtungen, wie dem St. Josefshaus in Herten. Insgesamt würde der Umbau aller Haltestellen geschätzt 4,2 Millionen Euro kosten, allein die fünf der ersten Kategorie bereits mehr als 400.000 Euro.
Die Diskussion
Das ist Geld, das die Stadt nicht hat und auch jahrelang nicht haben wird, weshalb der Umbau der Haltestellen derzeit noch nicht angegangen wird. Oberbürgermeister Klaus Eberhardt machte keinen Hehl daraus, was er von dem Vorgehen hält. „Die gleiche Diskussion hatten wir bei den Bahnsteigen. Ich verstehe nicht, warum man die Barrierefreiheit nicht an den Fahrzeugen umsetzt.“ Auch dass die Städte wieder für etwas bezahlen sollen, „was andere bestellen“, sei nicht nachvollziehbar.
Zwar gibt es laut Tiefbauamtschef Tobias Obert verschiedene Fördermittel. „Aber die Co-Finanzierung muss gesichert sein.“ Und das ist sie laut Eberhardt auch mittelfristig nicht. „Wir wurden in unserer Haushaltsplanung um Jahre zurückgeworfen“, sagte der Rathauschef mit Verweis auf die dramatisch verschlechterte Finanzlage.
Mögliche Klagen
Möglichen Klagen – etwa von Interessensverbänden – sieht Eberhardt „entspannt“ entgegen. Dann könne man auf die Deutsche Bahn, die eine vollständige Barrierefreiheit ebenfalls nicht erreicht, verweisen oder auf andere Kommunen, die das auch nicht umsetzen. Laut Krentel wäre dem Gesetz wohl Genüge getan, wenn man die Haltestellen der ersten beiden Kategorien barrierefrei umbauen würde.
Der Haushalt
Dieter Meier (CDU) sieht das weniger entspannt. „Es gibt keine Gleichbehandlung im Unrecht.“ Heiner Lohmann (Grüne) kritisierte den Verlauf der Diskussion. „Wir haben sieben Jahre verstreichen lassen, ohne etwas für Menschen mit Behinderung zu tun.“ Er wollte vom OB wissen, ob er überhaupt vorhabe, irgendwann Mittel in den Haushalt einzustellen. Den Haushalt, so Klaus Eberhardt, beschließe nach „seiner Kenntnis“ immer noch der Gemeinderat. Obert ergänzte, dass die Verwaltung bis zum Sommer zumindest die Mittel für die ersten fünf Haltestellen im Haushaltsentwurf vorgesehen hatte. „Da war die Lage aber noch anders.“ Doch allein mit der Studie sei man weiter als die meisten anderen Kommunen im Kreis, sagte Obert.
Die ganze Linie betrachten
Rainer Vierbaum (CDU) fand die Diskussion am Dienstagabend insgesamt erhellend. „Es wird sehr deutlich, dass man das pro Linie betrachten muss.“ Denn es nütze nichts, wenn jemand barrierefrei in Rheinfelden die Linie 7031 besteige und in Lörrach nicht mehr hinauskomme.