Die Gemeindereform des Landes Baden-Württemberg vor 50 Jahren hat die Bürger in den umliegenden Dörfern und der Stadt Stühlingen aufgewühlt. Die jahrhundertelang gewachsene Struktur der kleinen Gemeinden sollte Anfang der 70er Jahre leistungsfähigeren größeren Verwaltungseinheiten weichen, die nach Ansicht der damaligen Landesregierung effizienter arbeiten würden. Bürgermeister Ernst Rees (1969 bis 1993) traf auf privilegierte Städter, die sich mit gerade einmal 1750 Einwohnern als der wirtschaftliche und kulturelle Mittelpunkt des Oberen Wutachtals sahen, und auf Dörfler, die keine Neigung verspürten, mit der finanzschwächsten Kommune im Landkreis Waldshut eine Verbindung einzugehen. Er kämpfte jedoch unermüdlich für die Entstehung der Großgemeinde und bestand darauf, dass alle Ortsteile Stühlingens eine gleiche Behandlung erfahren sollten, unabhängig davon, ob sie freiwillig oder per Gesetz eingemeindet wurden.

Für die Schrift anlässlich 25 Jahre Gemeindereform Stühlingen und 50 Jahre Wiedererhebung zur Stadt „10+1=1 Von Gemeinsamkeit und Vielfalt“ von Jutta Binner-Schwarz erinnerte sich Bürgermeister Ernst Rees im Jahr 2000: „Die Stadt Stühlingen befand sich in der Klemme! Für sie stand die Existenz auf dem Spiel. Ohne Zentralitätsfunktion hätte es wohl keine Zukunft für die Realschule, den Polizeiposten, das Staatliche Forstamt, das Postamt usw. gegeben. Was wäre aus dem gerade erst geretteten Krankenhaus Loreto geworden? Klar war daher, wir mussten unter allen Umständen Erfolg haben, um die Zukunft dieses Städtchens, das im Laufe der Geschichte schon so viel für diese Landschaft getan hatte, zu retten! Die Überlegung war deshalb: Wenn eine offizielle Verhandlungskommission schon nicht den gewünschten Erfolg bringt und der Druck der Landesregierung immer größer wird, dann gibt es nur eines: Der Bürgermeister muss wieder alleine verhandeln!“

Bettmaringen hat sich schwer getan, in Stühlingen eingemeindet zu werden. Pfarrer Morath hatte sich damals für die persönliche ...
Bettmaringen hat sich schwer getan, in Stühlingen eingemeindet zu werden. Pfarrer Morath hatte sich damals für die persönliche Entscheidung des Bürgers ausgesprochen. Im Bild sind die Kirche St. Fridolin und das Schloss Bettmaringen zu sehen, das als Amtshaus und Landsitz des Klosters St. Blasien (gebaut 1541 bis 1571) genutzt wurde, seit 2013 ist es in Privatbesitz. | Bild: Yvonne Würth

Im Dezember 1970 lud Bürgermeister und Kreisrat Karl Müller aus Grimmelshofen zum ersten öffentlichen Gespräch in das Gasthaus „Krone“ in Stühlingen ein. Innerhalb der Gemeinden wurde bis 1972 heftig diskutiert: Stühlingen, Bonndorf und Eggingen konkurrierten um die umliegenden Dörfer, im Raum stand auch eine Verwaltungsgemeinschaft Stühlingens mit Eggingen und Bonndorf, eventuell auch mit Blumberg, wobei Bonndorf auf einer Hauptrolle bestand.

Bürgermeister Ernst Rees hatte sich bei der Gemeindereform vor 50 Jahren stark gemacht für die Ortsteile, damals lehnte er eine ...
Bürgermeister Ernst Rees hatte sich bei der Gemeindereform vor 50 Jahren stark gemacht für die Ortsteile, damals lehnte er eine Bestrafung ab für die Ortsteile, die sich nicht freiwillig eingemeinden ließen. Im Bild ist er bei der Unterzeichnung der Städtepartnerschaft/Jumelage Stühlingen mit Bellême im Jahr 1980 zu sehen. Von links: Der Gründungspräsident und Träger der Ehrenplakette Stühlingen, Günter Kurth, der damalige Bürgermeister Ernst Rees, Edith Virandaut sowie Bürgermeister und Abgeordneter Francis Geng, verdeckt Georges und Janin Roy. | Bild: Yvonne Würth (Repro)

Schon früh war jedoch klar, dass die künftigen Stühlinger Stadtteile eine weitgehende Eigenständigkeit behalten sollten. Dafür sorgte die Einführung der Ortsverfassung und der unechten Teilortswahl. Im März 1972 wurde über den kommunalen Finanzausgleich die einmalige Förderung von 75 Euro je Einwohner für die Stärkung von Verwaltungs- und Leistungskraft ein Entscheidungsanreiz geschaffen. Als erste der zehn heutigen Stadtteile entschlossen sich Blumegg und Grimmelshofen, sie wurden zum Jahresbeginn 1973 freiwillig eingemeindet. Dagegen sprachen sich Bettmaringen, Lausheim sowie Ober- und Unterwangen für eine Eingemeindung nach Bonndorf aus, die übrigen Ortsteile wollten so lange wie möglich ihre Selbstständigkeit bewahren.

Das Städtle Stühlingen. Vor 50 Jahren fand die Gemeindereform statt, damals wurden die umliegenden Orte teilweise freiwillig und ...
Das Städtle Stühlingen. Vor 50 Jahren fand die Gemeindereform statt, damals wurden die umliegenden Orte teilweise freiwillig und teilweise per Gesetz eingemeindet, selbstbewusste Dörfler trafen auf stolze Städter. | Bild: Yvonne Würth

Nach Verhandlungen mit Ernst Rees beschlossen im Juni 1974 Eberfingen, Mauchen, Schwaningen (auf Oktober 1974) sowie Lausheim und Weizen (auf Januar 1975), sich freiwillig nach Stühlingen eingliedern zu lassen. Zuvor war Mauchen von Eggingen umworben worden, wollte aber solange wie möglich wie selbstständig bleiben. Damit verschwand das Damoklesschwert, die Auflösung der Gemeinde Stühlingen, es gab ein großes Aufatmen. Die drei restlichen Gemeinden Bettmaringen, Oberwangen und Unterwangen ergaben einwohnermäßig keine 20 Prozent.

Von einem „Eingemeindungskrimi“ schreibt Jutta Binner-Schwarz bei Bettmaringen. Mit einem beschwörenden Aufruf wollte Ernst Rees vor einer erneuten Anhörung im April 1973 ein Umdenken bei den Bettmaringern erreichen. Zuvor hatten sich diese bereits zu Bonndorf bekannt, weil sie nicht nur „Befehlsempfänger“ sein wollten. Im Antwortschreiben sprachen sich die Bettmaringer gegen die wirtschaftlich schwache Stadt Stühlingen und für Bonndorf aus. Eine ihrer Befürchtungen war, zusammen mit Stühlingen in Wutöschingen zu landen.

Im Juli 1973 wurde Peter Folkerts zum Bürgermeister von Bettmaringen gewählt, der auch Bonndorfs Bürgermeister war. Nach Verabschiedung eines Gesetzes entsprechend den Vorstellungen der Landesregierung und somit der Stühlinger griffen Bonndorf und Bettmaringen zu weiteren Mitteln. Beide CDU-Ortsgruppen drohten mit Auflösung. Auch Pfarrer Morath aus Bettmaringen stellte in einer Diskussion mit Landtagsabgeordneten die persönliche Entscheidung des Bürgers in den Mittelpunkt. Die Mitglieder aller Bonndorfer Gemeinderatsfraktionen erklärten einstimmig ihren Rücktritt, der rechtlich nicht wirksam war. Zum Januar 1975 erfolgte die „Zwangsehe“ von Bettmaringen sowie Ober- und Unterwangen mit Stühlingen, aus Ober- und Unterwangen wurde der Ortsteil Wangen.

Wie Arnfried Winterhalder sich erinnert, hatte der damalige Leiter des städtischen Fremdenverkehrsamts, Walter Berg, die Idee, ein Fest anlässlich der Zusammenführung der Ortsteile sowie zum 25. Jahrestag der Stadtrechtverleihung von 1950 zu feiern. So wie damals sollte im Städtlerund gefeiert werden, das beliebte Städtlefest war geboren.

Durch die geografische Isolierung der zehn Ortsteile Stühlingens treten die Ortsteilbewohner auch heute noch sehr selbstbewusst auf. Viele Freundschaften entstanden, aber auch ein gesunder Wettbewerbsgedanke ist in den Vereinen zu erkennen. Jeder Ortsteil hat seinen eigenen Musikverein, Narrenverein, Frauenverein und so weiter. Erst seit Kurzem verwischen hier die Konturen durch die Annäherung von Sängern aus Weizen an Eberfingen, Blumegg an Grimmelshofen und von Musikern aus Schwaningen an Stühlingen.

Auch nach 50 Jahren hat jeder der zehn Ortsteile seine eigenen Vereine. Die Heavy Blechis (im Bild) setzen sich aus Musikern zusammen, ...
Auch nach 50 Jahren hat jeder der zehn Ortsteile seine eigenen Vereine. Die Heavy Blechis (im Bild) setzen sich aus Musikern zusammen, die in einem Orchester aus dem gesamten Wutachtal spielen. | Bild: Yvonne Würth

Jüngere Musiker wie die Heavy Blechis haben die geringsten Schwierigkeiten, Gemeinsamkeiten ortsteilübergreifend zu erkennen. Kultur, Wandern und mehr gibt es beim Schwarzwaldverein Stühlingen mit jährlichen Ausstellungen seit 1993 auf fünf Etagen mit historischen und kunsthistorischen Inhalten und dem Schwerpunkt auf der regionalen Geschichte.

Als besonderes und ortsübergreifendes Musterbeispiel für einen Verein ist der 2012 gegründete Ja-Verein attraktives Dorfleben Mauchen mit organisierter Nachbarschaftshilfe in sieben Orten aktiv. Ursprünglich gegründet aufgrund eines Mangels, jeder Ortsteil hatte einen eigenen Ortschaftsrat, nur Stühlingen nicht, nimmt das Offene Bürgerforum Stühlingen, kurz OBS, heute ebenfalls einen besonderen Platz ein. Durch das Sammeln von Spenden konnten einmalige wie auch regelmäßige Projekte von Bürgern für Bürger veranlasst werden, darunter die Weihnachtsdeko am Ortseingang und am Rathaus, Martinswecken für Kinderland und Hohenlupfenschule sowie die Aufwertung von Spielplatz, Friedhofpark, Nothelferkapelle und Grünstreifen entlang der Hauptstraße.

Das Städtlefest Stühlingen wurde im Anschluss an die Gemeindereform 1975 etabliert.
Das Städtlefest Stühlingen wurde im Anschluss an die Gemeindereform 1975 etabliert. | Bild: Yvonne Würth

Der Spagat zwischen Stühlinger Einigkeit und der damals gewünschten Selbstständigkeit der zehn Ortsteile steht auch heute noch im Raum. Auf die Entwicklungen hin zur Einigkeit haben nach Ernst Rees (Bürgermeister von 1969 bis 1993) auch Isolde Schäfer (Bürgermeisterin von 1993 bis 2017) und Joachim Burger (Bürgermeister seit Dezember 2017) aktiv hingearbeitet.

Stühlingen ist gut aufgestellt mit einem Krankenhaus mit Medizinischem Versorgungszentrum, der Carossa-Klinik, zwei Schwimmbädern, die von Vereinen betrieben werden, fünf Kindergärten und einer Kindertagesstätte, zwei Grundschulen und einer Realschule mit zweisprachigem Zug. Unter dem Begriff „Bildungslandschaft Stühlingen“ finden aktuell Überlegungen für eine bedarfsgerechte Zukunftsentwicklung statt. Ob es eine zentrale Grundschule und einen zentralen Kindergarten geben wird, wird den Bewohnern nicht übergestülpt, sondern vorsichtig und gemeinsam durchdacht. In einer der nächsten Gemeinderatssitzungen wird das Meinungsbild aus den Ortschaften vorgestellt.

Wie prägend die geografische Isolation der zehn Ortsteile der Stadt Stühlingen ist, sei am Beispiel der Unechten Teilortswahl dargestellt: Für die Beibehaltung der unechten Teilortswahl stimmte der Gemeinderat 2016 mit elf zu acht Stimmen. Zuvor war in den Ortschaftsräten abgestimmt worden, mit Ausnahme von Schwaningen und Wangen hatten alle Ortsteilgremien für eine Beibehaltung gestimmt. Bürgermeisterstellvertreterin Marianne Würth sagte dazu: „Ich hätte die ersten drei Perioden für eine Abschaffung gestimmt. Aber jetzt bin ich gegen eine Abschaffung. Es ist gut, dass von jedem Teilort ein Vertreter am Ratstisch dabei ist. Wir haben einfach in Stühlingen spezielle Verhältnisse, und Vergleiche mit anderen Gemeinden lasse ich nicht gelten.“