Renate Bökenkamp

Waldshut/Tula – Jeanette Waldner, geborene Moser, war sprachlos, als sie im oberen Stockwerk der ehemaligen Bielawski-Apotheke die Wohnung ihrer Ururgroßeltern Jeanette und Ferdinand von Bielawski (1834 bis 1903) in Tula betrat und somit mit ihrer Familiengeschichte konfrontiert wurde. Die Stadt hat die alte und bekannteste Apotheke in der Region, die noch bis vor wenigen Jahren in Betrieb war, zu einem Pharmazie-Museum ausgebaut. Die Direktorin des Museums, Lilia Kaschentzewa, hatte sie zusammen mit ihrem Mann Henry und ihrer Tante Gabriele Maass, der Urenkelin des Gründers, eingeladen, nachdem sie und ihre Mitarbeiter zwei Jahre lang nach den Nachfahren des Gründers gesucht hatten. Warum? „Durch die persönlichen Familiengeschichten kann man die Geschichte der ganzen Stadt besser kennenlernen, da die Stadtgeschichte aus lauter kleinen Familiengeschichten besteht“, so Kaschentzewa.

Die Ehrengäste, mit einer stilvollen Teestunde im Museum empfangen, wurden sowohl in die Stadt-, als auch in die Museumsgeschichte eingeführt, staunten bei Stadtbesichtigungen über alte russische Architektur und Industriekultur. „Solche Herzlichkeit habe ich lange nicht erlebt“, schwärmt Waldner. Begleitet wurden sie eine Woche lang von Rita Eliseeva (22), die 2016 an der Dualen Hochschule in Villingen-Schwenningen für drei Monate Deutsch studiert hat und die Sprachbarrieren überwinden half. Die studierte Literaturwissenschaftlerin und SÜDKURIER-Redakteurin Jeanette Waldner berührte dann auch der Besuch des Wohnhauses von Leo Tolstoi (1828-1910) in Jasnaja Poljana nahe Tula sehr: „Da lagen auf dem Nachttisch seines Schlafzimmers Medikamente mit der Aufschrift der Bielawski-Apotheke.

“ Auch ihr Großvater erinnert sich in seinen Aufzeichnungen an die Begegnungen und Gespräche mit dem russischen Schriftsteller „seinem wallenden Haar, breiten Strohhut und weißen Leinenhemd.“ Bielawski entstammt polnischem Adel, studierte in St. Petersburg Pharmazie. 1864 machte er sich selbstständig und kaufte in Tula die Apotheke und das Nebengebäude am Prospekt Lenina. Er fühlte sich als Deutscher, kam zu Wohlstand und Ansehen, förderte die deutsche Kultur sowie das evangelische Kirchenwesen in Tula. Seine Tochter Olga heiratete 1890 den Apotheker Friedrich Adermann, deren Sohn Woldemar hatte einen Sohn, Joachim-Woldemar, und zwei Töchter: Gabriele Maass und Donata Moser, letztere zwei Töchter. Sie kannten zwar die Familiengeschichte, konnten aber zu sowjetischen Zeiten keinen direkten Kontakt aufnehmen. „2002 besuchte meine Mutter mit der Volkshochschule Villingen-Schwenningen die Apotheke unserer Vorfahren“, erzählt Jeanette Waldner. Damals ahnte niemand, dass die Familiengeschichte einmal durch ein Museum bewahrt werden wird. Jetzt übergaben die Gäste Familienfotos und Bücher, dazu alte Apothekenutensilien der Züricher Letzi-Apotheke und des Pharmazie-Historischen Museums der Universität Basel. Jeanette Waldner (54) lebt mit ihrem Mann sowie einer sibirischen Waldkatze in der Nähe von Zürich und hat mittlerweile auch die Schweizer Staatsbürgerschaft.

„Über Politik wollten unsere Gastgeber nicht reden“, erinnert sich Jeanette Waldner, viel lieber über ihre Datscha, das Ferienhaus, in dem sie die Wochenenden und ihre Sommerferien verbringen. Die Tulaer Presse berichtete ausführlich in Bild und Text über den Besuch aus der Schweiz und Österreich. Dass die Nachfahren zum Abschied 400 000 Rubel (7000 Euro) für die Fassaden-Sanierung des Museums spendeten, war den Zeitungen eine große Schlagzeile wert und der Stadt Tula eine Dankesurkunde.

Die Stadt Tula

Die Stadt, rund 200 Kilometer südlich von Moskau in Russland gelegen, schützte als Festung die heutige Hauptstadt vor Angriffen. Tula hat 500 000 Einwohner, ist Verwaltungszentrum der Oblast Tula im Föderationskreis Zentralrusslands. Sie entwickelte sich zu einer Industriestadt, bekannt ist ihre Waffenindustrie. Seit 1993 besteht eine Städtepartnerstadt zwischen Tula und Villingen-Schwenningen. Ein Freundeskreis bemüht sich, initiiert durch den Arbeitskreis Tula, der seit 1991 dort sozial tätig war, Hilfstransporte schickte und Verbindungen in verschiedenen Bereichen knüpfte sowie einen Schüleraustausch organisieren half. Heute bemüht sich der Freundeskreis Tula (E-Mail: info@freundeskreis-tula.de) um die Partnerstadt. Von Interesse ist jetzt in Tula ein Austausch mit dem Pharmazie-Museum in Basel und Villingen-Schwenningen. Museumsdirektorin Kaschentzewa könnte sich gut vorstellen, auf den Gebieten der Literatur und Kunst gemeinsame Projekte zu initiieren. (boe)