„In Tiengen braucht es keine Stadtführer, seine Geschichte steht an den Hauswänden“, zitiert Stadtführer Ronald Landwehr einen Ausspruch. Er bezieht sich auf Kunst an Hauswänden, die auf wichtige Ereignisse der Tiengener Geschichte verweist. Es handelt sich um sogenannte Sgraffitos.
Rund ein Dutzend gibt es allein in der Tiengener Altstadt. Sie sind eine Besonderheit und in dieser Häufung einmalig. Die Sgraffitos älteren Datums hat so gut wie alle in den 1930er Jahren der Tiengener Stuckateur, Gipser und Künstler Albert Mutter (1886–1968) geschaffen. Er handelte im Auftrag der Hausbesitzer oder – so wird angenommen – vielfach auch auf Geheiß des damaligen, nationalsozialistisch gesinnten Bürgermeisters Wilhelm Gutmann.
Auf Gutmann soll eines der größten und exponiertesten Sgraffitos Tiengens zurückgehen, das eindeutig nationalsozialistisches Gedankengut verherrlicht. Es befindet sich über dem Weltladen in der Weihergasse und zeigt das Zusammenwirken von Nähr- und Wehrstand. Landleute bei der Ernte und bewaffnete Soldaten, sogar ein SA-Mann sind darauf zu sehen.

Für Stadtführer Landwehr ist dieses Sgraffito Ausdruck eines Missbrauchs sogenannter deutscher Kunst durch nationalsozialistische Ideologie, wie es in jenen Jahren hier wie anderswo vorgekommen wäre. Als Zeugnis dunkler Zeiten und wie er sagt, auch als Mahnmal, ist für Landwehr das umstrittene Sgraffito in der Weihergasse, genauso wertvoll und erhaltenswert wie alle anderen.
Er bedauert, dass schon einige in Tiengen verschwunden sind, oft im Zuge von Baumaßnahmen. So wie das Sgraffito am ehemaligen Ali-Theater, dessen genaues Aussehen nicht mehr zweifelsfrei bekannt ist. Ein deutscher Herold mit Fahne soll darauf zu sehen gewesen sein – und möglicherweise auf der Fahne ein Hakenkreuz.
Geschichtliche Zeugen
Die große Mehrzahl der Tiengener Sgraffitos bezieht sich auf einschneidende Ereignisse der früheren Tiengener und Klettgauer Geschichte. So wie das Lieblings-Sgraffito von Ronald Landwehr in der Hauptstraße über einem Durchgang zur Weihergasse.

Es weist auf den Bauernaufstand 1524/1525 hin, als unter dem Banner des Bundschuhs auch in Tiengen mutige Bauern für ihre Freiheit und Rechte eintraten.
Für Ronald Landwehr sind die Sgraffitos ein großer Schatz, den es zu erhalten gilt. Hier sieht er große Defizite. Das Sgraffito am ehemaligen Gasthaus Hirschen würde beispielsweise seit vielen Jahren zunehmende Beschädigungen aufweisen, gemacht worden wäre bislang aber nichts.

„Das Bewusstsein für die Erhaltung der Sgraffitos sollte geweckt und Geld dafür ausgegeben werden“, bekräftigt der Stadtführer. Waldshut hat übrigens so gut wie keine Sgraffitos. Hauptgrund dafür könnte laut Ronald Landwehr sein, dass Waldshut einst eine Verwaltungs- und Tiengen eine Bauern- und Arbeiterstadt war: „Nur Tiengen hatte Handwerker und Künstler wie Albert Mutter.“
Sgraffitos neueren Datums
Tiengen setzt die Tradition der Sgraffitos fort. Der Tiengener Künstler und Handwerker Josef Briechle ging bei Albert Mutter in die Lehre und ist heute in der Gegend einer der wenigen, der diese Technik noch beherrscht. Mehrere Sgraffitos von ihm sind in Tiengen zu finden.
Das jüngste hat er 2016 im Auftrag des Apothekers Andreas Otte an der Fassade der Marktapotheke geschaffen. Vereinzelt hat er auch welche restauriert.

Auch Briechle wünscht sich mehr Wertschätzung für die Sgraffitos. Er hat nach eigenen Angaben an einem Haus auf dem Mittleren Berg den letzten Rebhang Tiengens dargestellt. Das Sgraffito ist verschwunden. Das Haus wurde grün angemalt. „Das ist schon sehr brachial und eigentlich eine Frechheit“, kommentiert er dies.