Altstadtrat Eugen Mulflur hütet einen kostenbaren Schatz. Es handelt sich um ein dickes Fotoalbum, das mit fast 80 Aufnahmen die legendäre Gewerbeausstellung von 1925 dokumentiert. Nur drei Exemplare waren angefertigt worden, von denen zwei verschollen sind.
Wie kommt Eugen Mulflur in den Besitz dieses wertvollen Dokuments? Die Antwort ist einfach: Sein Großvater Eugen, ebenfalls Schreinermeister, war im Gewerbeverein tätig und einer der Organisatoren der Ausstellung. Insofern kann Wehrs ehemaliger stellvertretender Bürgermeister als legitimer Erbe des Albums angesehen werden.

Die Gewerbeausstellung 1925 fand vom 17. Mai bis zum 2. Juni in der Wehrer Volksschule, heute Talschule, statt. Sie wurde anlässlich des 60-jährigen Jubiläums des Gewerbevereins veranstaltet.
Stolz schrieb Gewerbelehrer Rohrer im Vorwort, dass „über 10 000 Besucher aus allen Ständen und Schichten“ gezählt wurden. Da Wehr Mitte der 1920er Jahren knapp 4000 Bewohner besaß, hatte die Schau auch viele auswärtige Gäste angezogen. Wehr strahlte aus!

Inflation: Mit Milliarden Mark zum Milchholen
Diese spektakuläre Präsentation war ein Signal der Hoffnung. Wehr hatte im Ersten Weltkrieg schlimme Zeiten erlebt. 171 Männer waren gefallen oder wurden vermisst. Nahrungsmittel und Gebrauchsgüter wurden rationiert.
In der Nachkriegszeit herrschten bittere Not und Arbeitslosigkeit. Die Währungskrise verschärfte 1923 die Lage. Die Gemeinde führte Notgeld ein, die Betriebe zahlten mit Brot-Gutscheinen.
Der in Wehr aufgewachsene und 2017 im biblischen Alter von 105 Jahren verstorbene Pfarrer Kurt Erhart erinnerte sich lebhaft an die Hyperinflation. Damals wurde er mit Taschen voller Geldscheine in Milliardenhöhe von seinem Vater Theodor Erhart, dem Inhaber eines Geschäfts am Bahnhofplatz, zum Bauern geschickt. Dafür gab es einen oder zwei Liter Milch.
Auf den Krieg folgen Zeiten des Chaos
Die Stimmung war so explosiv, dass es dem Kommunisten Josef Leber gelang, eine Gruppe junger Männer am 18. September 1923 zu einem Anschlag auf die Eisenbahnbrücke anzustacheln. Dieser wurde jedoch vereitelt.
Leber, der vor dem Ersten Weltkrieg mit 15 Jahren Wehr verlassen hatte, Kriegsfreiwilliger wurde und als Klassenkämpfer zurückgekehrt war, war auch fünf Tage später am „Wiesentäler Kommunistenputsch“ beteiligt. Fast wäre ein Schopfheimer Fabrikant gelyncht worden. Dafür wanderte Leber ins Zuchthaus. Die Lage beruhigte sich erst nach Stabilisierung der Währung Ende 1923.
Neue Hoffnung keimt auf
Nachdem das Chaos überwunden war, schöpften auch die Händler und Handwerker neue Hoffnung. Die Webstühle liefen wieder auf Hochtouren und die Menschen hatten etwas Geld in der Tasche. Der Nachholbedarf infolge der Mangelwirtschaft des Ersten Weltkriegs war riesig.
Ein Beispiel: Weil es in Deutschland keine Baumwolle mehr gab, wurden seit 1915 Textilien aus Papierfasern produziert. Dass sich solche Klamotten bei Regen verformten oder gar auflösten, liegt auf der Hand. Doch nun konnte man sich endlich wieder gescheite buntgewebte Kleidung leisten.
Großes Angebot bei Gewerbeausstellung
Der Aufschwung beflügelte die Wehrer Geschäftswelt. Deshalb beschloss der Gewerbeverein die Ausrichtung der Jubiläumsausstellung. Genau 50 Wehrer Handwerker und Geschäftsbesitzer waren beteiligt.
Das Angebot der Gewerbeschau war erstaunlich und reichte vom handgefertigten Herrenschuh des Schustermeisters Felber oder eleganten Festtagskleid der Damenschneiderin Frieda Frei über köstlichen Bohnenkaffee aus dem „Konsumhof Thoma“ und Skier des Sportgeschäfts Zumkeller bis zur modernsten landwirtschaftlichen Maschine Gustav Weissenbergers.

Natürlich waren auch die Wehrer Textilfirmen MBB, Wehra AG und Herosé vertreten. Manche Geschäftsleute taten sich auch zusammen, etwa der Schreiner Dempfle mit einem Wohnzimmer, zu dem Schlosser Gräßlin einen Metalltisch und Polsterer Steffi eine Chaiselongue lieferte.
Es fällt auf, dass Schreinermeister Eugen Mulflur und der Kaufmann Wilhelm Kiefer, dessen Geschäft in der Kirchstraße lag, gleich mit mehreren Ständen vertreten waren. Sie vertrauten offensichtlich auf die Kraft von Präsentation und Werbung.
Besonderes Glück hatte Mathäus Prutscher, Großvater des Altstadtrats Klaus Marksteiner. Sein Geschäft (heute Lauber Moden) zählte zwar nicht zu den größten. Aber weil die Firma Weck damals ihr 25-jähriges Jubiläum feierte, stand Prutschers Präsentation im Zeichen des Einkochens. Prutschers Kolonialwarenladen mag längst Geschichte sein, wie die Wehrer Ausstellung von 1925 – die Öflinger Firma Weck hingegen ist quicklebendig und feiert im nächsten Jahr ihren 120. Geburtstag.

Gewerbeschauen
Die große Gewerbeausstellung 1925 war die erste große Leistungsschau von Handel und Gewerbe in Wehr. Erst viele Jahre später knüpfte die aus der Werbegemeinschaft des Wehrer Einzelhandels enstandene Service-Gemeinschaft Wehr daran an und organisierte die Gewerbeschau 1983. Weitere Ausstellungen folgten in den Jahren 1992 und 2000.