Am 27. August 1929, also auf den Tag genau vor 90 Jahren und ebenfalls an einem Dienstag, wurde der 2006 verstorbene Wehrer Künstler Lothar Weiss geboren. Er war Spross einer, wie man früher sagte, „Textilerfamilie“. Sein Großvater Kaspar gehörte als Obermeister in der Mechanischen Buntweberei Brennet (damals nur MBB genannt) zur hoch angesehenen „Arbeiteraristokratie“.

Lothars Vater Victor wurde ebenfalls Weber in der MBB und zählte seinerzeit zu den besten Turnern Wehrs. Angesichts dieser Familientradition war es fast logisch, dass Lothar Weiss auch ein „Textiler“ wurde – allerdings arbeitete er nie an einer Webmaschine. Weil sich bereits in der Volksschule sein zeichnerisches Talent gezeigt hatte, erlernte er in der Wehra AG den Beruf eines Musterzeichners. Weiss wurde Teppichdesigner in der einst berühmten und stolzen Firma.
Ich habe Lothar Weiss im Februar 1990 durch die Vermittlung Eberhard Volks kennengelernt. Damals bereitete ich gerade meine Bewerbung um die Stelle des Kulturamtsleiters von Wehr vor. „Wenn Sie Informationen über die Wehrer Kunst brauchen, dann telefonieren Sie mit Lothar Weiss“, so der gute Rat des Buchhändlers. Also rief ich nach meiner ersten Wehrer Erkundungstour bei Lothar Weiss an.
Wichtige Hinweise zur Kunst in Wehr
Der Künstler begegnete mir mit freundlicher Offenheit, der trotzdem ein gewisses Maß an Reserviertheit nicht abging. Er hörte mir aufmerksam zu und beantwortete geduldig meine Fragen. Als er von der Ernsthaftigkeit meiner Bewerbung überzeugt war, kam er aus der Reserve und gab mir wichtige Hinweise zur Kunst in Wehr und zu Wehr überhaupt. Ich spürte sofort, dass mein Gegenüber sich nicht nur auf der Ebene der Kunst bewegte, sondern seine Heimatstadt als eine Art Gesamtkosmos begriff, in dem alle Ebenen miteinander verwoben waren. Das kam meiner eigenen Denkweise sehr entgegen.
Dank der vielen Tipps, die mir Lothar Weiss in weiteren Telefongesprächen gab, konnte ich am Abend der Vorstellung im Wehrer Gemeinderat eine Konzeption meiner Kulturarbeit und insbesondere eine konkrete Planung für die im renovierten Alten Schloss untergebrachte städtische Galerie vorlegen. Dass ich am Ende der Gemeinderatssitzung Kulturamtsleiter von Wehr war, hatte ich somit auch Lothar Weiss zu verdanken.
Persönlich begegneten wir uns gleich am Tag meines Dienstantritts, am 2. Mai 1990. Damals bereitete Pfarrer Paul Gräb in der Stadthalle die große Ausstellung „Bewahrung der Schöpfung“ vor (Man beachte den Titel, der heute aktueller denn je ist!). An ihr war auch Lothar Weiss beteiligt, nicht nur als Künstler, sondern auch mit seinen technischen Fertigkeiten des Rahmens und Hängens von Kunstwerken. Er schaute spontan bei mir im Kulturamt vorbei und lud mich und meine Frau zu einem Atelierbesuch ein. Dieser fand ein paar Wochen später statt.
Meine Ehefrau Katharina erinnert sich noch heute daran, dass uns Frau Weiss Geflügelsalat reichte. Dieser war außergewöhnlich lecker. Noch deutlicher erinnern wir uns jedoch an den nach dem Essen angeschlossenen Besuch in der Werkstatt des Holzschneiders. An diesem Abend erhielt ich einen Crash-Kurs in der Kunst des Holzschneidens und zum Abschied einen Handdruck als Willkommensgeschenk. „Beim ersten Atelierbesuch dem Ehepaar Valenta gesch.“, schrieb der Künstler neben seine Signatur.
Viele Atelierbesuche
Bis zu seinem Tod im Jahr 2006 sollten viele weitere Atelierbesuche folgen. Lothar Weiss wurde für mich ein Fixpunkt des von mir in der städtischen Galerie und darüber hinaus begleiteten Kunstbetriebs. Ich durfte Vernissagenreden für ihn schreiben, Portraits und Texte in Magazinen veröffentlichen und verhalf ihm durch meine Beziehungen zu einem Konstanzer Verlag zum Druck eines prächtigen Holzschnitt-Kalenders. Vor allem aber durfte ich mit ihm reden – im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt.
Außergewöhnliche Tiefe des Denkens
Lothar Weiss zählte nicht nur zu den bedeutenden Holzschneidern seiner Generation in Deutschland, war nicht nur ein großer Wehrer Künstler, sondern besaß auch eine Tiefe des Denkens und (Mit)fühlens, die außergewöhnlich war. Wäre er in einer Akademikerfamilie aufgewachsen, hätte aus ihm durchaus auch ein Theologe, Philosoph oder Literaturwissenschaftler werden können. Viel wäre noch zu Lothar Weiss zu sagen: Wieso er lieber zu den Ministranten ging als zur Hitlerjugend, wieso für ihn der Baum das Symbol der Bewahrung der Schöpfung wurde und wieso er, gerade wegen seiner fester Verwurzelung in der Wehrer Heimaterde, ein weltoffener und frei denkender Mensch wurde. Bereits vor über dreißig Jahren thematisierte er das Flüchtlingselend auf der Welt und den Raubbau an der Natur in seinen Holzschnitten. Ein großer Künstler, unvergessen, heute aktueller denn je.
Das Buch
Das Buch „Lothar Weiss: 1929-2006“, 2014 herausgegeben vom Förderkreis Stadtmuseum Wehr ist noch in der Buchhandlung Volk erhältlich. Reinhard Valenta plant zudem im Frühjahr 2020 einen Vortrag über Lothar Weiss, Leben und Werk.