Zum Schulbeginn startet die Polizei wieder Aktionen. Sie will „Helikopter-Eltern“ davon abbringen, ihren Nachwuchs im Auto vor die Schulen zu kutschieren. Viel zu gefährlich und nicht nur für die Umwelt schädlich, meinen die Ordnungshüter. Trotzdem trauen immer mehr Eltern ihren Kindern die Bewältigung des Schulweges nicht zu.
Wenn der 1932 geborene Bernhard Kuhne solche Meldungen liest, schmunzelt er. Selbstverständlich ist er immer zu Fuß zur Schule gegangen. Als er ein Schulbub war, tobte der Zweite Weltkrieg. Seine Brüder waren an der Front, seine Schwestern in Diensten. Doch die bäuerliche Wirtschaft in der Breitmatt musste weiterlaufen. Viel Arbeit für den angeschlagenen Vater, der 1944 verstarb. Er ließ seine Ehefrau Rosa zurück, die ihm acht Kinder geschenkt hatte und von morgens früh bis abends spät rackern musste. Kein Wunder, dass Bernhard Kuhne am Hof unentbehrlich war. Als Bauernsohn war er Kinderarbeit gewohnt. Aber noch heute wundert er sich über das Maß an Verantwortung, das ihm abverlangt wurde.

„Handlangerdienste am Schlachttag im Winter, wenn der Metzger Dede kam, und Distelstechen im Weizenacker im Frühjahr waren die leichtesten Übungen“, sagt der 87-jährige Rentner. Doch dabei blieb es nicht. Kuhnes Vater Karl Albert war Landwirt im Vollerwerb und musste den Lebensunterhalt der Familie durch die Bewirtschaftung seines Grund und Bodens sichern.

„Doch mein Vater war ein moderner Mann. Weil er nach dem Ersten Weltkrieg kurz in amerikanischer Kriegsgefangenschaft war, interessierte er sich für Amerika und seine hoch entwickelte Landwirtschaftstechnik. So kam er auf die Idee, einen Traktor zu kaufen, um durch Anspanndienste Geld zu verdienen“, erinnert sich Kuhne. Gesagt, getan: Karl Albert Kuhne wurde der erste Besitzer eines Lanz-Traktors in Wehr. Damit die Todtmooser Holzfuhrwerke die Steigung nach Schopfheim schafften, wurde der Traktor vorgespannt. Bei einer solchen Arbeit verunglückte der Vater, der Traktor war kaputt, was weiter mit ihm geschah, weiß Bernhard Kuhne nicht mehr.
Aber alte Ochsengespann trat wieder in Aktion. Vielleicht war die Reparatur zu teuer. „Wir besaßen zwei große Ochsen, die ich schon als Kind führte“, erzählt Kuhne. Als er elf Jahre alt war, schlug der Vater zwischen Ehwald- und Pfeiferhütte Holz. Er war mit drei Söhnen, die damals noch in Wehr waren, schon am frühen Morgen hinauf gelaufen. Sein jüngster Sohn sollte nun das schwere Gespann nach der Schule zur Ehwaldhütte zu fahren. Eine große Aufgabe! Dort wurde es beladen und zurück ging es nach getaner Arbeit mit der ganzen Mannschaft runter nach Wehr. „Das war für mich normal. Die Ochsen kannten ja die Strecke“, so Kuhne. „Keiner hat groß geschaut, wie ich hoch in den Wald fuhr.“ Wer den Ehwald mit seinen Steilhängen kennt, hält den Atem an! Doch so glimpflich gingen nicht alle Fuhren aus.
Nach dem Tod des Vaters lenkte Kuhne das Gespann immer häufiger. Einmal sollte Jauche ausgebracht werden. Die Ochsen waren wegen des schlechten Wetters drei Wochen lange nicht draußen gewesen und nervös. Daher spannte die Mutter nur einen Ochsen und eine Kuh an. Der Elfjährige fuhr hinauf zum Dinkelberg, wo die Kuhnes eine Streuobstwiese besaßen. Dort zog Bernhard die Bremse und wollte gerade das Jauchefass öffnen, als der nervöse Ochse durchging. Er riss das Gespann mitsamt der Kuh die Wiese hinunter. Das Fuhrwerk krachte gegen einen Birnbaum, wobei der Kuh ein Bein abgerissen wurde, während der Ochse unverletzt blieb. Zum Glück sah eine Frau die Katastrophe. Metzger Laule wurde informiert und eilte mit Traktor und drei Gesellen herbei, um die Notschlachtung vorzunehmen und das Fuhrwerk aus der Wiese zu schleppen. Zuvor wurde die Jauche entleert und Bernhard fuhr wieder nach Hause.
Aber fast wäre es noch schlimmer gekommen. Weil einer ihrer Ochsen lahmte, bekam die Witwe Rosa Kuhne vom Bauernverband einen neuen. Dieser war angeblich im Gespann auf links eingeübt. Als Bernhard im Enkendorf auf der abschüssigen Straße beim Glattacker-Haus unterwegs war, um Grünfutter zu holen, blieb das neue Tier plötzlich am Abhang stehen. Während der alte Ochse voran wollte, ging der neue Schritt für Schritt zurück. Offensichtlich war er links nicht eingewöhnt. „Noch zwei Schritte und das ganze Fuhrwerk wäre abgestürzt. Das war der schlimmste Augenblick meiner Kindheit“, erinnert sich Kuhne. „Unsere Existenz wäre vernichtet gewesen.“ Doch wieder hatte Bernhard Glück im Unglück: „Hermann Nägele kam mit dem Gemeindetraktor vorbei und zog uns raus.“

Wenn Bernhard Kuhne von seinen Kindheitserlebnissen im Krieg erzählt, spürt man, wie sehr sie ihn noch heute beschäftigen. Glorifizieren mag er sie aber nicht: „Der Krieg war eine schlimme Zeit und ich freue mich, dass wir so lang schon in Frieden und Wohlstand leben dürfen. Aber vielleicht wäre etwas mehr Dankbarkeit angebracht.“
Der Autor
Reinhard Valenta war von 1990 bis Ende Juni 2019 Wehrer Kulturamtsleiter. In zahlreichen Aufsätzen, Vorträgen und Publikationen widmete er sich der Regionalgeschichte. „Die Wehrer Identität verstehen, lesen und weiterentwickeln“ wurde sein großes Thema. Ab sofort schreibt Reinhard Valenta exklusiv für den SÜDKURIER über Menschen aus Wehr.