Wehr – Beeindruckenden Schicksalen und plastisch beleuchteten Lebenswelten Einzelner über etwa 150 Jahre hinweg ist der prächtige Bildband „Erinnerungen 2 – Menschen in der Brennet“ auf der Spur. Dabei immer ganz nahe an den Menschen dran, die einst in der Mechanischen Buntweberei Brennet, später Brennet AG, tätig waren.
Nach dem ersten Band „Erinnerungen – Menschen in der Brennet“, der im Sommer 2015 erschienen war, habe Stephan Denk als Herausgeber des Bandes eine Flut an neuen Materialien und Informationen von ehemaligen „Brennet-Mitarbeitern“ erhalten. „Die Aufsätze und Interviews in Erinnerungen I haben offensichtlich die Leserinnen und Leser des Bildbandes dazu inspiriert, in ihren eigenen Erinnerungen zu kramen und Vergessenes zutage zu fördern“, schreibt Stephan Denk in seinem Vorwort. Und genau dadurch, durch das Engagement, das Interesse und viele Leihgaben so vieler ehemaliger Brennet-Mitarbeiter, oder ihrer Angehöriger, konnte dieser zweite umfassende Bildband realisiert werden. Eine Sammlung von Quellen und Archivalien wie etwa Mitgliederbüchern, Fotografien oder Aufzeichnungen aus Meisterkursen und viele aufschlussreiche Interviews lassen hier ein breites Bild der Entwicklung der Textilfirma, dem Wandel des Ortsbilder von Wehr, Öflingen und Brennet und der Lebenswelten der Beschäftigten entstehen.
Selbst da, wo historische Dokumente teils fehlen oder lückenhaft erhalten sind, entstehen Darstellungen, die die Verwobenheit von Arbeiten, Leben, Familien und großer Politik, erlebtem und erlittenem Zeitgeschehen deutlich werden lassen. Neben Beiträgen von Stephan Denk, Günter Fürst, Horst Langer und Lothar Rist ist dies vor allem dem Historiker Reinhard Valenta geschuldet, dem Kulturamtsleiter der Stadt Wehr, der es schafft aus seinem reichen Wissen, dem ihm zugänglichen Quellenmaterial und vielen Interviews und Bildmaterialien Lebenswege nachzuzeichnen und eine Welt wiedererstehen zu lassen, die vergangen ist. Seine Beiträge stellen den größten Anteil der Beiträge zu diesem Werk dar. Herausgeber Stephan Denk weiß auf wen er sich verlassen kann, wenn er in seinem Vorwort sagt: „Ihm gelingt es immer wieder, die Geschichte der MBB und späteren Brennet AG so anschaulich und lebendig zu gestalten, dass die Leser den Eindruck gewinnen, mitten im Fluss des Geschehens zu stehen und aus dem Vollen zu schöpfen.“ Nur ansatzweise kann an dieser Stelle auf die Vielfalt der Einzelschicksale der Dargestellten eingegangen werden, deren Lebenswege jeweils vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten und Verhältnisse ihrer Zeit vorgestellt werden.
Der 1880 in Hottingen geborene Joseph Baumgartner etwa, der wie so viele aus den damals bitterarmen Hotzenwaldgemeinden ihr Auskommen und ihre Existenzsicherung etwa in den Textilfabriken am Rhein sichern mussten, wollten sie nicht nach Amerika auswandern und alles hinter sich lassen. Ihm haben die Macher des Bildbandes einen wahren Schatz zu verdanken – eine 300 Seiten starke, akribisch genaue Aufzeichnung eines Webmeister-Kurses des Oberrheinischen Webschul-Vereins Säckingen. Dem Textilmuseum gestiftet durch dessen Enkel Jürgen Dräger und insofern auch bedeutsam, weil die Quellenlage über den Oberrheinischen Webschul-Verein Säckingen um 1900 spärlich erscheint, wie Reinhard Valenta ausführt.
Der Inhalt des Buches ist vielschichtig: Die enge Verbundenheit von Maria Denk mit der einstigen Brenneter Kreuz-Wirtin Josephine Thomann wird ebenso beschrieben, wie die Entstehung der Mariengrotte am Humbel. Auch die Geschichte der „Gregoris“ in Wehr vor dem Hintergrund des Wandels von Eisenproduktion zu Textilproduktion nach der Mitte des 19. Jahrhunderts wird thematisiert.
Weiterhin geht es um den Strukturwandel von einer Nebenerwerbslandwirtschaft vieler Mitarbeiter der MBB hin zu deren Aufgabe nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel der Weberdynastie von Martin Keser oder dem traurigen Schicksal des Webermeisters Oskar Urich, der 1944 im Krieg fiel. Gezeigt werden Lebenswelten einer fernen Zeit, die auch durch eine reiche Auswahl an Fotografien des einstigen Betriebsmalers der MBB Alfons Keser, gestorben 1982, beeindruckend dokumentiert ist.
Enthalten sind auch Interviews mit Verena Förster, einer der ersten Frauen, die in den 1960er Jahren die Prokura erhielt, oder Giovanni Grizzavi, der mit 19 Jahren 1960 aus dem Italienischen Süden nach Wehr kam und sich ein Leben aufbaute. Nicht zuletzt dürfen auch die Erinnerungen an Kurt Wassmer und Heinz Wenk nicht fehlen.
All das eröffnet ein buntes und vielschichtiges Kaleidoskop, das weit mehr erzählt, als ein Stück Firmengeschichte; denn diejenigen, um die es geht, und zwar ganz nahe, sind die Menschen, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen und auf ganz unterschiedliche Weise die Geschicke der Firma mitgeprägt haben und deren Leben durch ihre Arbeitswelt in der MBB ebenso geprägt wurde.