Das Aussehen der Wehrer Hauptstraße hat sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts radikal verändert. Ein städtebaulicher Höhepunkt war in den 1920er Jahren die Umwandlung der alten „Balthsers-Schmiede“ durch den Tabakhändler Eugen Biesinger.
„Balthsers“, so lautete der Übername der Schmiedefamilie Nägele nach ihrem Urahn Balthasar. Laut der Brandversicherung von 1842 wurde das Haus Talstraße 85 (alte Nummerierung) 1752 erbaut. Dort übte Balthasar Nägele sein Handwerk aus.
Der Schmied stirbt – die Schmiede wird verkauft
Mit dem Tod des letzten Schmiedes Balthasar am 17. Februar 1898 ging das Feuer der Esse für immer aus. Seine Kinder Anton, Josef und Maria verließen Wehr. Wem seine Witwe Euphrosina, geborene Strittmatter aus Bergalingen, das Haus verkauft hat, ist derzeit nicht bekannt. Fest steht jedenfalls, dass der Schneidermeister August Trefzger bis zum Umbau des Gebäudes zu Beginn der 1920er Jahre im ersten Stock wohnte und dort seine Schneiderwerkstatt betrieb.
August hatte am 30. Juli 1900 die Fabrikarbeiterin Rosa Thoma geheiratet. Auf einem Foto von 1908 sind die drei Trefzger-Kinder Elsa Rosa (geb. 1901), Erwin (geb. 1904) und Oswin (geb. 1902) zu sehen. Sie stehen vor dem „Balthsers-Haus“, während der Schneidermeister und seine Ehefrau aus dem Fenster im ersten Stock blicken. Unter ihnen befindet sich am Fenstersims die Hausnummer 85 und direkt daneben das Schild der Schneiderwerkstatt. Der stattliche Vollbartträger links am Hauseck und der Jugendliche direkt daneben im Fenster des Erdgeschosses sind unbekannt. Um den späteren Käufer Eugen Biesinger kann es sich nicht gehandelt haben. Dieser wohnte damals noch bei seinem Schwiegervater, dem Seifensieder Dempfle, im Ortsteil Flienken Haus Nr. 190.

Zwei Urenkel des 1904 geborenen Erwin Trefzger leben noch heute in Wehr. Es handelt sich um den pensionierten Teppichweber Rolf Trefzger sowie um Walburga Büche, geb. Trefzger, die Witwe des unvergessenen Gipsermeisters und Imkers Wolfgang Büche. Rainer Trefzer (ohne G!), ein Urenkel der 1901 geborenen Elsa Rosa, kam noch im Wehrer Krankenhaus zur Welt und lebt seit 2016 in Bad Säckingen. Er ist ein engagierter Familienforscher und hat Daten zum Schneidermeister August Tefzger gesammelt.
Doch was wurde aus „Balthsers-Schmiede“?
Nachdem der Webmeister Eugen Biesinger 1919 aus dem Krieg zurückgekehrt war, erwarb er 1920 das Anwesen und baute das Wohnhaus in ein Tabak- und Hutgeschäft um. Biesinger stammte aus Tübingen, war 1893 nach Wehr gekommen und bereits 1894 zum Webmeister in der MBB aufgestiegen. 1898 ließ er sich beurlauben und besuchte mit dem Fabrikantensohn Eugen Denk das Textiltechnikum in Reutlingen.
Im Anschluss absolvierte Biesinger dort noch die Handelsschule und kehrte 1901 nach Wehr zurück. Sein Ziel war klar: Irgendwann würde er selbständiger Kaufmann werden. Sofort nach der Rückkehr heiratete er Bertha Dempfle und stieg wieder als Webmeister bei der MBB ein. Nebenberuflich engagierte er sich als Aufsichtsrat und Geschäftsführer im Konsumverein. Dort sammelte er Erfahrungen im Einzelhandel. Auch nach seinem Wechsel 1912 in die Teppichweberei Neflin & Rupp blieb er ein enger Freund Eugen Denks. Dieser hatte inzwischen die Leitung des MBB-Werks in Brennet übernommen.
Zeitgenossen bewundern Gebäude
Mit dem 1920 gegründete Tabakgeschäft erfüllte sich Biesinger seinen Traum der Selbständigkeit. Die Geschäfte liefen so gut, dass er 1927 das ehemalige „Balthsers-Haus“ von Grund auf renovieren und mit einem weiteren Stockwerk sowie einem Erker versehen konnte. Das Ökonomiegebäude wurde abgebrochen und in ein attraktives Geschäftshaus mit Arkaden und Renaissancegiebel umgewandelt.

Damals fanden vier Geschäfte Platz in dem von Biesingers Zeitgenossen bewunderten Gebäudekomplex. Der Schneidermeister August Trefzger eröffnete hingegen im Erdgeschoss des ehemaligen Gasthauses „Zum Hirschen“ in der Öflinger Straße eine Werkstatt, die er mit Oswin bis zu seinem Tod betrieb.
Oswin Trefzger meldete am 7. Januar 1928 auf dem Standesamt das Ableben seines 55-jährigen Vaters, während dem gerade einmal vier Jahre jüngeren Eugen Biesinger noch fast ein Vierteljahrhundert der geschäftlichen Wirksamkeit beschieden blieb. Er verstarb am 24. November 1952 im Alter von 76 Jahren. Sein Name lebt in der Biesinger GmbH weiter.