Die Lage in der Ukraine ist weiterhin dramatisch. Viele Menschen aus unserer Region haben in ihrer Privat- oder Ferienwohnung für Flüchtlinge Platz gemacht. Andere zögern, weil sie zwar Wohnraum hätten, aber nicht wissen, was auf sie zukommt. Zeitlich, finanziell und mental. Isabel Lorenz aus Allensbach hat den Schritt gewagt – seit mehr als vier Wochen lebt unter dem Dach der vierköpfigen Familie eine weitere Familie: Vater Artem Lukianenko, Mutter Iryna Nalapko und die achtjährige Tochter Veronika.

Wie kam es zu der Entscheidung?

Mein Mann und ich sahen die Bilder des gerade aufkeimenden Krieges im Fernsehen, schauten uns an und es war klar, dass wir beide den gleichen Gedanken hatten: Wie können wir helfen? Wollen wir jemanden bei uns aufnehmen? Wir haben im Keller ein Gästezimmer mit eigenem Bad. Wir bauten innerhalb weniger Tage ein wenig um, schafften zum Beispiel eine eigene kleine Pantry-Küche. Gemeinschaftsnutzung wollten wir nicht, jeder soll seine Privatsphäre haben können. Wir wussten ja gar nicht, was auf uns zukommt. Klar gab es Sorgen, die ich mir vorher machte: Werden wir all die Unterstützung bieten können, die es braucht? Wird die Situation uns über den Kopf wachsen? Aber der Wille, zu helfen, war größer als die Bedenken. Also haben wir uns bei der Gemeinde gemeldet, die uns eine ehrenamtliche Helferin vermittelte. Über die wiederum kamen wir an die Familie. Es war früh zu Beginn des Krieges und alles sehr spontan und wenig formalisiert. Mittlerweile vermitteln die Gemeinden oder Städte direkt.

Isabel Lorenz.
Isabel Lorenz. | Bild: Eva Marie Stegmann

Wie war der erste Kontakt?

Oh, an den werde ich mich immer erinnern. Eine Besonderheit bei uns ist, dass eine ganze Familie, nicht nur eine Frau mit Kindern kam. Aus Kiew, eine Akademikerfamilie, sie ist Ärztin, er arbeitet auf der See und durfte deshalb das Land verlassen. Zu dritt waren sie zur Besichtigung da, standen in der kleinen Wohnung, schauten sich um. Eine Frage war Vater Artem Lukianenko ganz ganz wichtig: „How is the W-lan?“, also wie ist die Internetverbindung, fragte er auf Englisch. Das irritierte mich etwas, weil ich dachte, okay, es ist Krieg, es fallen Bomben, da ist W-Lan eventuell nicht ganz so wichtig. Er merkte meine Irritation schnell, deutete auf Tochter Veronika und fügte hinzu: „For Education“. Für die Ausbildung der Tochter. Und das lebt diese Familie wirklich.

Wie meinen Sie das?

Man merkt, dass sie weitermachen, sich hier etwas aufbauen und nicht einfach nur warten wollen, bis der Krieg vorbei ist. Man muss sich das vorstellen: Tochter Veronika – die mit acht übrigens gleichalt wie meine Tochter ist – besucht morgens die Schule hier in Allensbach. Am Nachmittag nimmt sie via Internet am Fernunterricht aus der Ukraine teil und bekommt anschließend noch Hausaufgaben für etwa zwei Stunden auf. Viermal die Woche hat sie Ballett, die Ballettlehrerin ist mit hierher geflohen. Sie macht nämlich die Kinderweltmeisterschaften mit in Ballett. Im Juni soll sie in Spanien starten, das ist noch nicht klar, leider. Sie hängt die Beine über den Kletterturm in unserem Garten, da staunt meine Tochter nur. Geige spielt sie auch noch. Meine Tochter, die Flöte spielt, sagt, sie will das alles auch können. Ich antworte dann: ‚Tja, dann musste du auch viermal die Woche üben‘ und sie ist schon weniger begeistert.

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Verstehen sich die zwei Mädchen?

Ja und wie. Sie spielen stundenlang im Garten, ohne Sprache. Das ist einfach toll, mit anzusehen, wie schnell das funktioniert. Veronika hat am Anfang gesagt, dass sie hierbleiben möchte. Die Schule sei nicht so streng in Deutschland, die Kinder spielten mehr als in der Ukraine, und es gäbe mehr Süßigkeiten. Aber mittlerweile hat sie doch Heimweh, sagt ihr Vater. Diese aufregende Ferienlager-Stimmung wie Kinder sie zu Beginn einer Reise haben, die ist nun vorbei. Außerdem ist es keine Reise, leider.

Wie viel helfen Sie der Familie im Alltag? Sowohl finanziell als auch etwa bei Behördengängen?

Kaum. Sie sind wahnsinnig selbstständig. Eher wird mir Hilfe angeboten. Die Kinder bringt Artem gemeinsam zur Schule, die Roller holt er morgens schon aus dem Schuppen. Die Ukrainer sind extrem gut untereinander vernetzt und helfen sich gegenseitig beim Ankommen in Allensbach und Konstanz. Was Nahrungsmittel angeht, hatten wir den Schrank einmal vollgepackt zum Start. An Mehrkosten für uns sind es im Prinzip nur Nebenkosten für Strom und so weiter, allerdings kann man die auch vom Amt erstattet bekommen. Wenn man sich offiziell registriert, wird sogar von der Kommune Miete gezahlt. Bei uns war das ja bisher alles eher eine Übergangslösung, weil sehr spontan und ganz früh. Unterm Strich ist es eine riesige Bereicherung, die Familie bei uns zu haben und ich würde es immer wieder tun.

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Wie geht es weiter?

Von Anfang an war klar, dass eine dreiköpfige Familie nicht in der Einzimmerwohnung bleiben kann. Sie haben jetzt etwas Größeres gefunden. Unsere Wohnung wird dann für die nächsten Flüchtlinge frei. Ich kann mir gut vorstellen, dass diejenigen, die bis jetzt in der Ukraine geblieben sind, und zu uns kommen, traumatisiert sind. Damit kann ich als Psychotherapeutin gut umgehen, wie auch mein Mann, der eine Suchtklinik leitet. Man muss aber kein Psychotherapeut sein, um traumatisierten Menschen eine Heimat zu geben – es gibt im Landkreis Anlaufstellen, die diesen Menschen schnell und unbürokratisch helfen, zum Beispiel an der Uni Konstanz. Wer einen Wohnraum anbietet, muss auf gar keinen Fall eine Art Sozialarbeiter werden, der für alle möglichen Fragestellungen zuständig ist. Das kommuniziert der Flüchtlingsbeauftragte in Allensbach auch ganz klar. Man darf helfen, wenn man möchte und Zeit hat. Das ist aber keine Bedingung. Es gibt ein System und alle möglichen Ansprechpartner und Sozialarbeiter, Psychologen, mit denen die Ukrainer gut vernetzt sind.

Was möchten Sie bei der nächsten Familie anders machen?

Wir hatten Glück, es hat alles super gepasst, aber das heißt nicht, dass es immer so ist. Ich habe eine junge Frau kennengelernt, bei der eine dreifache ukrainische Mutter lebt, die mit allem überfordert ist. Diese junge Frau hat Probleme, sich abzugrenzen. Doch sich im Zweifel Abgrenzen zu können ist wichtig, wenn man die Entscheidung trifft, jemanden bei sich aufzunehmen. Ich habe mir vorher überlegt, was ich bereit bin, zu leisten – und was nicht. Was ich beim nächsten Mal anders machen würde? Einen Mietvertrag aufsetzen. In dem Hausregeln stehen – wie zum Beispiel, wo geraucht werden darf, welcher Teil des Gartens mitbenutzt werden darf, Nachtruhe. Eigentlich hatten wir so eine Art Vertrag auch, doch dann lernten wir die Familie kennen und die war so nett, dass wir dachten: ‚Ach, lassen wir es.‘ Aber dass wir dieses Glück zweimal hintereinander haben, das ist wirklich nicht selbstverständlich.