Tief sitzt der Schock über die Nachricht vom russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Krieg in Europa hatte Galina Braun für völlig absurd gehalten. Wenn die Eltern in Krasnojarsk besorgt waren, tröstete sie: „Das wird Putin niemals machen. Im 21. Jahrhundert wird das nicht passieren.“

Viele Russen aber, mit denen Gallina Braun sprach, hätten in Putin den Heilsbringer nach der Ära Gorbatschow gesehen. „Er habe für das Land viel getan, so erzählen mir Leute, die aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen. Eine Frau erzählt: „Wir hatten oft nicht genug zu essen. Erst als Putin kam, ging es uns gut.“
Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg
Ende Oktober wirkte Galina Brauns Mann Marius bei der Buchvorstellung der „Birkendorfer Soldatenschicksale“ mit. Originalbriefe gefallener Soldaten im Zweiten Weltkrieg wurden von deren Urenkeln oder Großneffen und -nichten vor rund 200 Gästen vorgelesen.
Der Autor beschreibt in seinem Buch Einzelschicksale junger Männer aus dem Dorf und was es bedeutete, Söhne, Ehemänner und Väter durch Krieg zu verlieren. Viele der Soldaten waren so jung wie die Akteure der Präsentation.
Als Nachkomme seines gefallenen Urgroßvaters las auch Galinas Mann aus der Feldpost an die Großmutter vor. Zu Hause diskutierten Galina und Marius Braun oft darüber, wie es dazu kam. Fragen kamen auf, die man gerne den Überlebenden gestellt hätte. Die meisten sind inzwischen verstorben. Ein einziger 96-Jähriger, der den Krieg als Soldat erlebt hatte und 20-jährig verwundet nach Hause kam, war bei der Buchvorstellung anwesend.
„Warum hat die deutsche Bevölkerung das zugelassen und mitgemacht? Wie kam es dazu?“ Galina Braun konnte es sich nicht vorstellen, warum die Menschen Hitler gefolgt sind. Jetzt sieht sie einige Parallelen im Krieg gegen die Ukraine, wie sie sagt. Sie erinnert sich auch, dass die russische Regierung in den 90er Jahren mit „Befreiungskrieg“ in Tschetschenien und Georgien Propaganda machte.
Galina Braun ist Russin mit deutschem Pass. Sie lebt seit 20 Jahren in Deutschland und seit acht Jahren in Ühlingen-Birkendorf. In Krasnojarsk in Sibirien aufgewachsen, besuchte sie dort bis zum Abitur die Schule und studierte danach in ihrer Heimatstadt Lehramt für Deutsch und Englisch. Der Lebensstandard sei mit dem in Deutschland vergleichbar gewesen. Während ihres Studiums kam sie für ein Jahr nach Deutschland als Au Pair zu einer evangelischen Pastorenfamilie in Steißlingen. Es sei ein schönes Jahr gewesen.
Nach dem Abschluss des Studiums in Krasnojarsk kam sie wieder nach Deutschland und studierte in Konstanz British-American Studies und Literarturwissenschaften. Sie lernte ihren späteren Mann Marius kennen. Die beiden heirateten und wohnen mit ihren zwei Kindern in Birkendorf. Bis zu Beginn der Corona-Pandemie kam ihre Mutter aus Sibirien jedes Jahr für zwei Monate zu Besuch. In diesem Jahr hofften alle, dass Reisen wieder möglich sein würde.
Der Krieg in der Ukraine war ein Schock. Galina Braun war tief deprimiert. „Ich fühle mich schuldig, obwohl ich nichts dafür kann“, sagt sie und fügt hinzu: „Mein Land ist isoliert. Ich habe Familie und gute Freunde in Russland und in der Ukraine. Wie wird es weitergehen? Können wir uns noch gegenseitig besuchen?“
Bilder der Zerstörung durch die russische Armee würden sie verfolgen. „Ich muss etwas tun“, sagt sie und beschließt, in die Flüchtlingsunterkunft der Pfarrgemeinde zu gehen, in der Ukrainer neu angekommen sind.
Die Befürchtung, dass sie als Feind nicht akzeptiert werde, löste sich schon im ersten Augenblick. Die Menschen empfingen sie liebevoll und dankbar.
„Ich spürte, dass ich gebraucht werde. Damit ging es mir wieder besser. Ich kann einen Beitrag in der Katastrophe leisten und helfen.“Gallina Braun, Russin
„Stell dir vor, in Russland müssen sie 15 Jahre ins Gefängnis, wenn sie von Krieg sprechen. Es sind schon so viele verhaftet und eingesperrt worden. Diesen Krieg kann niemand wollen“, ist Galina Braun überzeugt. Die Dankbarkeit und auch Freude der Flüchtlinge über ihren Besuch sei groß gewesen. Endlich kam jemand, mit dem die Flüchtlinge reden konnten. Ein engagierter Flüchtlingshelferkreis aus dem Dorf hilft, wo es möglich ist, und Galina kann übersetzen.
„Sie wollen Deutsch lernen und sobald es geht arbeiten“, erzählt sie. Sie bringt Kleidung und Spielzeug mit. Eine Familie mit sieben Kindern und eine Ärztin sind unter anderen in der Unterkunft. Eine Woche nach dem ersten Besuch beginnt Galina Braun mit dem Deutschunterricht. Zwischenzeitlich hat sie erfahren, dass die Eltern wieder zu Besuch kommen können.
Weil die russische Fluggesellschaft nicht nach Deutschland fliegen könne, gehe es von Krasnojarsk nach Novosibirsk, von dort nach Kasachstan, danach in die Türkei und dann weiter nach Frankfurt.
Die Flugpreise der türkischen Fluggesellschaft seien um mehr als 80 Prozent teurer als vor dem Krieg. Nur russischen Politikern und Oligarchen sei die Einreise nach Europa derzeit verwehrt, erfährt Galina telefonisch aus Russland.