Es gibt Ereignisse, die man jederzeit abrufen kann. Den Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 oder das Reaktorunglück 1986 in Tschernobyl. Die meisten Menschen können dazu sofort eine Geschichte erzählen, weil sich diese Katastrophen im kollektiven Gedächtnis verankert haben. So ist es auch mit den Kriegen in der Ukraine oder in Gaza. Welche traumatischen Folgen sie für die Menschen haben, wird sich in den kommenden Jahrzehnten offenbaren. Das zeigen die Beispiele von Überlebenden des Zweiten Weltkriegs. Für sie scheint sich jetzt die Geschichte zu wiederholen.
Zu ihnen gehört auch Horst Baldszuhn aus Bietingen. „Solange ich noch kann, will ich von meiner Flucht aus Masuren berichten“, sagt der 88-Jährige. Er ist einer der wenigen hochbetagten Zeitzeugen, die von ihren Erlebnissen erzählen, um zu warnen und um zu vermitteln, wie schwerwiegend Krieg, Flucht und Vertreibung ihr Leben beeinflusst haben. 1947 kam er mit seiner Mutter und zwei Geschwistern in den Hegau. Von hier aus haben er und Helene Baldszuhn immer wieder neue Versuche gestartet, den verschollenen Vater Carl zu finden.

So suchte er nach seinem Vater
Auf der Eckbank in seiner Küche hat Horst Baldszuhn einige Ordner gestapelt. Darin befinden sich Geburts- und Heiratsurkunden der Eltern, seine eigene vom Standesamt in Allenstein (Olstin) und Schriften über eine Nervenheilanstalt in Kortau, in der die Nazis Versuche an Menschen verübten. Er hat Dokumente gesammelt von seinen Reisen nach Gelsenkirchen, der Partnerstadt von Allenstein, wo er sich mit anderen Geflüchteten ausgetauscht hat. Reisen kann Horst Baldszuhn heute nicht mehr, weil sein Knochengerüst nicht mehr mitspielt. Doch die gedanklichen Reisen in die eigene Vergangenheit lassen ihn nicht mehr los.
„Ich war acht Jahre alt, als wir geflohen sind“, erzählt er. In einem Protokoll über die Flucht, vom 21. Januar 1945 bis zum 17. März 1947, hat er alles festgehalten. Obwohl der Vater als verwundeter Veteran des Ersten Weltkrieges nicht eingezogen war, wurde er noch kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs zum sogenannten Volkssturm einberufen. Als die russischen Truppen immer näher an Allenstein heranrückten, musste der Vater an die Front. Er forderte die Familie auf zu fliehen. Horst Baldszuhn erinnert sich an seine Worte: „Ich muss jetzt leider gehen, und passt gut auf euch auf.“ Danach verlieren sich die Spuren des Vaters.
Die Flucht verlief glücklich
Bei minus 18 Grad Celsius und einem halben Meter Schnee machte sich Helene Baldszuhn mit den drei Kindern Fritz, Christel und Horst sowie Tante Anna auf den Weg. Doch der Bahnhof lag schon unter Beschuss, wie sich der heute 88-Jährige erinnert. Man floh in einer Menschenmenge zum Westbahnhof, während sich hinter ihnen der Himmel rot färbte. Dann entdeckten sie einen Eisenbahnwagen, in dem sie sich ausruhen wollten. Wie durch ein Wunder kamen sie mit diesem Wagen weiter nach Westen.
Doch jeder Ort, den sie gerade passiert hatten, fiel anschließend in die Hände der russischen Armee. Immer wieder hatten die Flüchtenden Glück, kamen nach Danzig und später mit der „MS Deutschland“ und weiteren Zügen nach Dänemark. „Bei der Abfahrt waren wir 9000 Verwundete und Flüchtlinge auf dem Schiff“, sagt er. „Ich kann mich erinnern, dass wir im Geleit fuhren. Zwischen den großen Schiffen war immer ein Minensuchboot und seitlich von uns waren U-Boote zur Absicherung.“
Im Flüchtlingslager in Oxböl konnte die Familie das Kriegsende abwarten. Mit Eiern und Weißbrot sei er – völlig unterernährt – wieder aufgepäppelt worden. Bei Kriegsende seien 38.000 Flüchtlinge im Lager eingesperrt gewesen. Erst als man sich Anfang 1947 zur Heimfahrt nach Deutschland für die französische Zone melden konnte, habe sich die Mutter mit den drei Kindern auf den Weg gemacht. Am 17. März 1947 kam die Familie in Bietingen an, wo sie bis 1950 in einer Baracke mit anderen Flüchtlingen zusammenleben musste.
Wie die Suche nach dem Vater endete
Die Mutter fand eine Wohnung, in der Horst Baldszuhn auch nach dem Tod seiner Ehefrau heute noch lebt. Immer wieder startete Helene Baldszuhn die Suche nach dem Familienvater. In den 1950er-Jahren über den Suchdienst des Roten Kreuzes, 1971 beim VDK. „Wir brauchten ja den Nachweis für die Rente“, erklärt der 88-Jährige. „Ich habe meinen Vater kaum gekannt. Er hat mir gefehlt.“
Und so hat auch er alles unternommen, um ihn zu finden. Er fuhr zu den Allenstein-Treffen nach Gelsenkirchen, besuchte seinen Geburtsort, schaltete wieder das Rote Kreuz, den kirchlichen Suchdienst und den VDK ein und hatte endlich Erfolg.

In russischen Archiven fand man den Namen des Vaters. Seine Spur führte zu einem Gefangenenlager nach Litauen. In Kaunas steht ein Gedenkstein mit der Aufschrift: „Unter den unbekannten Toten dieses Gräberfeldes ruhen Block 9“. Horst Baldszuhn hat über die Kriegsgräberfürsorge immer wieder Blumensträuße dorthin geschickt. Die Geschichte lässt ihn nicht los. Deshalb verstehe er auch nicht, warum sich die politische Stimmung nach diesen Erfahrungen aktuell immer mehr nach rechts dreht.