Michael Diener schlägt einen Ordner auf. Darin hat er alles dokumentiert. Dreimal habe er Gottmadinges Bürgermeister Michael Klinger und die Fraktionssprecher angeschrieben, um auf die prekäre Lage der hausärztlichen Versorgung hinzuweisen. Jedes Mal habe er lange auf eine Antwort warten müssen. Das erste Schweigen dauerte vom 29. November 2021 bis Ende März 2022. Dann, kurz vor einer Ratssitzung, sei eine freundliche, aber wenig ambitionierte Antwort vom Rathauschef gekommen. Darin die Ankündigung, Klinger wolle sich mit den Ärzten treffen und selbst ein Bild von der Situation machen. Dann wieder Funkstille bis Mitte Juli. Diener reagiert enttäuscht.
Mittlerweile haben ein paar Bürger eine Arbeitsgruppe gebildet, die auf den bevorstehenden Hausärzte-Notstand aufmerksam machen will. Auslöser waren ganz konkrete Erfahrungen während der Pandemie. Im Herbst 2021 wollten benötigten Elke und Michael Diener Medikamente und wollten sich gegen Corona impfen lassen. Doch ihr Hausarzt war selber erkrankt. Sie gingen auf die Suche nach einem anderen Arzt. Was sie dabei erlebten, sollte sie einigermaßen erschrecken. Wo sie auch anfragten, sagte man ihnen, dass die jeweilige Praxis hoffnungslos überfüllt sei und keine weiteren Patienten aufgenommen würde. Ihr eigener Hausarzt hat das Rentenalter längst überschritten, sodass das Ehepaar mit einer Schließung der Praxis in naher Zukunft rechnet. Was geschieht danach?
Die Suche nach Lösungen ist schwierig
Diese Frage treibt auch Margrit und Jörg Sieg um. Zusammen mit den beiden Vorsitzenden des Gottmadinger Seniorenbeirats Marie-Therese Oni und Hans-Dieter Steier wollen sie das Problembewusstsein bei Gemeinderäten und Bürgermeister schärfen. „Noch haben wir in Gottmadingen sechs Hausärzte“, rechnet Jörg Sieg vor. „Einer hört Ende 2023 auf. Drei weitere sind 60, 61 und 62 Jahre alt. Da ist der Ruhestand absehbar.“ Alle Praxen seien voll ausgelastet und würden keine neuen Patienten mehr aufnehmen. Einer habe erklärt, dass er 1400 Patienten in seiner Kartei führe und weitere auf einer Warteliste stünden. Den anderen gehe es ähnlich.
Nachbargemeinden mit Vorbild-Charakter
Im Wohnzimmer von Margrit und Jörg Sieg berät die kleine Arbeitsgruppe, wie sie die Politik zum Handeln bewegen können. „Wir müssen die Gemeinde ins Boot holen“, sagt Marie-Theres Oni. „Sie muss bessere Rahmenbedingungen schaffen, damit sich junge Hausärzte hier ansiedeln wollen.“ Ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) schwebt der kleinen Versammlung vor, in dem mehrere Ärzte unter modernen Bedingungen arbeiten können. Als Beispiele nennen sie das MVZ im alten Engener Krankenhaus, das genossenschaftliche Ärztehaus in Tengen, das Gesundheitshaus in Steißlingen oder das Engagement Gailingens bei der Umsiedlung der ansässigen Arztpraxis. „So etwas wünschen wir uns auch. Warum kann die Gemeinde nicht aktiv werden und Ärzte für ein Gesundheitszentrum suchen“, fragt Michael Diener. „Wir vermissen das Engagement.“
Der Seniorenbeirat hat zwischenzeitlich den Kreisseniorenrat angeschrieben, um auf die Situation aufmerksam zu machen. „Viele wissen noch gar nicht, dass in naher Zukunft etliche Hausärzte in den Ruhestand gehen werden“, sagt Hans-Dieter Steier. „Die Politik muss wissen, dass es hier Leute gibt, die sich Sorgen machen.“
Einer der schon seit Jahren vor dem drohenden Hausärzte-Notstand warnt, ist Christoph Graf. Er war Vorsitzender der Ärztekammer und hat den Überblick. „Seit 2009 weise ich sämtliche Bürgermeister und den Landrat darauf hin“, erklärt er. „Der Kittel brennt. Alleine in Singen werden bis 2025 zwölf der bisher 28 Hausarztpraxen schließen.“
Ende des Monats sei deshalb ein Treffen der Hausärzte mit Singens Oberbürgermeister Bernd Häusler und Michael Klinger geplant. Dabei will Graf für Medizinische Versorgungszentren werben, allerdings anders als in Tengen, wo die Genossenschaft die Immobilie gestellt hat. Graf sieht allerdings bessere Chancen, wenn nicht das Gebäude, sondern der ärztliche Betrieb in Genossenschaftsform geführt würde. Dort würden Ärzte als Angestellte mit individuellen Stundenregelungen arbeiten. Ein Vorteil für junge Ärztinnen, die oft Familie und Beruf zu vereinbaren hätten. „Das werden wir Bernd Häusler und Michael Klinger vorschlagen“, sagt Christoph Graf. Außerdem hofft er, dass die Bürger Druck auf die Entscheidungsträger ausüben. Und dann bricht er noch eine Lanze für den Beruf des Hausarztes. „Das Landarztleben ist ein gutes Leben“, sagt er. „Man erfährt eine hohe Wertschätzung und ist in der Gesellschaft integriert.“
Kommunen beklagen Fehler der großen Politik
Michael Klinger, mit der Kritik der kleinen Arbeitsgruppe konfrontiert, erklärt: „Ich teile die Sorge der Bürger, sehe aber wenig Möglichkeiten, die Fehler der Bundes- und Landespolitik auszugleichen.“ Auch er kann sich eine genossenschaftlich geführte Praxis mit einem Verantwortlichen als neues Geschäftsmodell vorstellen. „Wir kümmern uns“, sagt er. „Aber das braucht Zeit. Wir müssen mit den Ärzten sprechen und nicht über sie, denn wir brauchen eine andere Praxisstruktur.“ Man wolle sich Beispiele aus dem Schwarzwald anschauen und Synergien mit Singen suchen.