Die Klagen sind alltäglich: Menschen möchten sich bei einem Arzt behandeln lassen, werden aber abgewiesen, weil die Praxis keine neuen Patienten aufnehmen kann. Vor einem drohenden Ärztemangel wird schon länger gewarnt. Wie ist die Situation in unserer Region und wie wird sie sich entwickeln? Und: Wer bestimmt, wie viele Ärzte ein Ort braucht, und wie berechnet sich dieser Wert?
Christoph Graf ist Allgemeinmediziner mit Praxis in Gottmadingen – ein klassischer Landarzt. Und er hält mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. In dieser Frage sagt er klar: Der Ärztemangel ist schon da. Im Raum Singen hätten einige Praxen geschlossen, weil sie keine Nachfolger gefunden hätten. Er gibt zu: Auch seine Praxis müsse Patienten abweisen. Das mache man allerdings nur bei Menschen, die nicht aus Gottmadingen kommen. Diese würden an andere Mediziner verwiesen.

Das Problem dürfte eher größer werden als kleiner, so Grafs Einschätzung. Denn die niedergelassenen Ärzte werden älter, Nachfolger seien schwer zu finden. „Man muss sich nur einmal in den Dörfern umschauen“, sagt er. „In Gailingen, Hilzingen, aber auch in Singen werden Praxen geschlossen, weil es keine Übernahmen gibt.“ Der Mediziner aus Gottmadingen formuliert es drastisch: „Die Basisversorgung im Kreis Konstanz ist langsam aber sicher am Wegbrechen.“ In dieser Frage ist sich Graf offenbar mit der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) einig. Deren Pressesprecher Kai Sonntag erklärt, man stehe vor dem Problem, dass Hausärzte künftig noch mehr fehlen werden.
Gründe dafür gibt es viele. Graf sagt, die Selbstständigkeit werde zunehmend unattraktiv. Denn von Kassenleistungen allein könne ein Arzt keine Praxis führen. Und die Ärzteschaft werde nicht nur älter, sondern auch weiblicher. Grundsätzlich sei das eine gute Entwicklung. Doch für die Menge an Sprechzeiten, die für die Patienten angeboten werden, kann das auch andere Folgen haben. Denn gerade für Ärztinnen, die eine Familie gründen möchten, seien lange Arbeitstage unattraktiv, lautet Grafs Einschätzung. Mindestens 25 Stunden wöchentlich müsse ein niedergelassener Hausarzt als Sprechstunde für Kassenpatienten anbieten, sagt KV-Sprecher Sonntag. Christoph Graf berichtet indes, er arbeite im Durchschnitt 60 Stunden pro Woche. „Hier zeigt sich die wirtschaftliche Schere. Ein Sitz muss dann künftig durch drei Ärzte erfüllt werden. Dafür reicht das Geld nicht.“ Da müssten sich die Krankenkassen überlegen, wie man als Drittelärztin eine Familie ernähren kann.
Doch Sprechzeit und Nachfolge sind nur ein Aspekt des Themas. Denn niedergelassene Ärzte sind nicht in einem vollkommen freien Markt unterwegs. Wie viele Ärzte welcher Fachrichtung sich wo niederlassen dürfen, regelt die Bedarfsplanung (siehe Text rechts). Auch nach diesen Regeln gebe es zu wenige niedergelassene Allgemeinmediziner im Raum Singen, darauf weist Hausarzt Graf hin. Neue Hausärzte dürfen sich in der Region niederlassen. Im Fachjargon heißt das: Der Bezirk ist offen – ein Hinweis darauf, dass ein Bezirk laut Bedarfsplanung als unterversorgt gilt. Der Raum Singen weist demnach einen Versorgungsgrad von 96,1 Prozent auf (Stand Juni 2021). Auf 114.159 Einwohner in dem Bereich gibt es aktuell 65,25 Hausärzte. „Hier geht die Rechnung nicht auf“, sagt Graf.
Auch die Bedarfsplanung kann es nicht richten – die ausreichende Versorgung ist nämlich gar nicht ihr Ziel
Kann die Bedarfsplanung eine ausreichende Ärzteversorgung nicht sichern? KV-Sprecher Kai Sonntag sagt rundheraus, dass dieses Instrument kein tatsächliches, gefühltes oder drohendes Versorgungsproblem lösen könne. Selbst wenn man mehr Arztsitze schaffen würde, hätte man noch nicht unbedingt genügend Ärzte. Und überhaupt sei die Grundlage der Bedarfsplanung nie gewesen, wie hoch die tatsächliche Nachfrage oder eine ausreichende Versorgung der Menschen vor Ort ist. Hintergrund sei die Frage gewesen, wie man die Krankenkassenbeiträge stabil halten könne.
Als das System unter Gesundheitsminister Horst Seehofer eingeführt wurde, habe man sich am Zustand von 1990 orientiert: „Das wurde praktisch als ausreichend definiert“, so Sonntag. Der Schlüssel, wie viele Einwohner auf einen Arzt kommen sollen, werde regelmäßig angepasst. Auch das Krankheitsniveau der Bevölkerung fließe in die komplexe Formel ein. Ist ein bestimmter Wert erreicht, gilt ein Bereich als ausreichend versorgt. Für den Raum Singen liegt die Zahl der Einwohner pro Hausarzt bei 1680, teilt Sonntag mit. Er stellt klar: „Man berechnet dabei gar nicht, wie groß der richtige Bedarf ist. Die Verhältniszahl ist genauso richtig, wie sie falsch ist.“ Um die Versorgung zu beurteilen, wäre die Zahl der Sprechstunden eigentlich geeigneter.
Hausarzt Graf sieht indes noch ein anderes Problem, wenn es um die Ärzteversorgung im Kreis Konstanz geht. Es gebe einige Ärzte, die zwar einen Kassensitz für Allgemeinmedizin haben, aber tatsächlich in einer anderen Richtung, etwa Psychotherapie, arbeiten. Diese würden dann faktisch nicht an der Versorgung der Bevölkerung teilnehmen. Und seine Kritik lautet, dass Anpassungen am System der Bedarfsplanung meist zugunsten anderer Fachrichtungen gegangen seien. Der Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, der über die Bedarfszahlen bestimmt, sei ziemlich unbeweglich.
Die hausärztliche Versorgung
- Die Bedarfsplanung: Wo genau Ärzte sich wie viele Ärzte niederlassen dürfen, regelt die Bedarfsplanung. Diese wird vom Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen erstellt. Grundlage ist das Verhältnis der Zahl der Ärzte bezogen auf die Zahl der Einwohner in einem bestimmten Planungsbereich. Das Verhältnis wird für die einzelnen Fachgruppen jeweils getrennt ermittelt. Für Hausärzte erfolgt die Berechnung in Mittelbereichen, also um Mittel- oder Oberzentren.
- Sperrung und Öffnung: Ist der Versorgungsgrad in einem Planungsbereich höher als 110 Prozent, besteht eine Überversorgung. Der Bereich wird dann für Neuzulassungen gesperrt. Neue Ärzte können in einem solchen Bereich nur eine Praxis übernehmen oder sich in einer bestehenden Praxis anstellen lassen. Sinkt in einem gesperrten Bereich der Versorgungsgrad wieder unter die 110-Prozent-Grenze, wird die Zulassungsbeschränkung aufgehoben. Dann sind Neugründungen von Praxen wieder möglich.
- Überprüfung: Der Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen prüft regelmäßig, welche Planungsbereiche über- oder unterversorgt sind. Kritisch wird es erst, wenn der Versorgungsgrad bei Hausärzten unter 75 Prozent sinkt. Der Landesausschuss prüft dann, ob eine ausreichende Versorgung tatsächlich nicht mehr gewährleistet sein könnte, und bestimmt Maßnahmen, um das zu ändern. (gve)