„Einen alten Baum soll man nicht verpflanzen“ sagt ein weiser Spruch. Elisabeth (84) und Nikolaus Hohn (87) haben dennoch den Umzug von Köln an den Bodensee gewagt – mitten in der Pandemie.

Nikolaus Hohn und Anne Blatter-Miredin: Die Enkelin liebt das Strahlen auf Opas Gesicht.
Nikolaus Hohn und Anne Blatter-Miredin: Die Enkelin liebt das Strahlen auf Opas Gesicht. | Bild: Blatter privat

In einem sind sie sich rückblickend einig: „Es gab Höhen und Tiefen, aber insgesamt war es gut, dass wir diesen Schritt gemacht haben.“ Elisabeth ergänzt: „Vielleicht hätten wir uns doch schon früher dazu entschließen sollen.“ Aber das war nicht möglich. Denn bis zur Erkenntnis, dass die Kräfte nachlassen, war es ein langer und teilweise zermürbender Prozess. Längst war die alte Mietwohnung zu groß geworden. Barrierefrei war sie auch nicht. Elisabeth, nach einigen Unfällen gehbehindert, bewältigte trotzdem den Haushalt und die Treppen, auch wenn sie die Zähne zusammenbeißen musste. Nur widerwillig akzeptierte sie Unterstützung durch eine Haushaltshilfe der Caritas, aber dann wurde der junge Mann, der sie unterstützte, fast zum Freund. In der Nachbarschaft und in der Kirchengemeinde, wo Elisabeth ehrenamtlich tätig war, hatten die beiden viele soziale Kontakte. Die Großstadt bot Kultur und Ablenkung. Langweilig wurde den beiden nie. Aber dann kam Corona. „Auf einmal fühlte sich das Leben an, als wäre man vor eine Wand gefahren,“ beschreiben sie es übereinstimmend. Der Haushaltshelfer durfte die Wohnung nicht mehr betreten. Die körperliche Belastung machte müde, der Stress reizbar. Wichtig wurde in dieser Zeit das soziale Netz: Das Familientelefongespräch wurde liebevolle Routine und gab Alltagsstruktur. Nachbarinnen erledigten Einkäufe, was aber wiederum die Einsamkeit verstärkte.

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Vor allem Nikolaus litt, da gleichzeitig mit dem ersten Lockdown die Sehfähigkeit stark nachgelassen hatte. Ablenkung durch Lesen oder Malen war nun nicht mehr möglich. „Schlecht hören kann ich auch gut“, witzelte er, aber lustig war die Sache nicht. Innerhalb weniger Wochen wurde es dunkler um ihn – und sehr still, denn öfters mal wurden auch die Batterien des Hörgerätes vergessen – eine durchaus gefährliche Situation: Fehlen Sinneseindrücke und kognitive Anregung, hat das Gehirn nichts mehr zu tun. Bei Nikolaus jedenfalls verschlechterte sich die leichte Demenz durch den Lockdown. Zur Erinnerung: Damals gab es noch keine Maskenpflicht, man wusste nicht, ob das Virus auf Türklinken lauert und von einer Impfung konnte man nur träumen.

Umzug im Alter: Elisabeth und Nikolaus Hohn nehmen im Dom Abschied von Köln.
Umzug im Alter: Elisabeth und Nikolaus Hohn nehmen im Dom Abschied von Köln. | Bild: Blatter privat

Elisabeth und Nikolaus fuhren trotzdem mit der Straßenbahn in die Augenklinik und alles ging gut. Das Augenlicht konnte gerettet werden, aber die Fähigkeit zum Lesen war verloren. Die vorübergehende Leichtigkeit des Sommers ermöglichte einen gemeinsamen Urlaub, sodass der Familienrat tagen konnte. „Besser wird‘s nicht mehr“, drängten die Jüngeren auf eine dauerhafte Lösung. „Wir schaffen das irgendwie“, war Elisabeths Antwort. Eine kleinere Wohnung, barrierefrei und modern, die Nähe zur Familie, Sozial- und Pflegedienst im Haus – waren das denn keine guten Argumente? Die Antwort lautete: „Ihr bringt uns nicht ins Heim!“ Die Unterschiede zwischen Heim, Senioren-WG und betreutem Wohnen konnten – oder wollten – sie nicht sehen. Aber irgendwann sagte Nikolaus diesen einen Satz: „Wenn wir allein in Köln bleiben, sind wir geliefert.“ Damit war der Umzug beschlossen – aber nicht der Wohnort. Mecklenburgische Seenplatte oder Bodensee? Wohnen beim Sohn oder bei der Tochter? Eine Checkliste zeigte, dass der Osten mit Natur und niedrigen Lebenshaltungskosten punktete, aber dafür lag das Seniorenhaus abgelegen und der Bus fuhr nur stündlich. So rückte der Bodensee in die engere Wahl. Konstanz, Singen, Radolfzell? Man konnte es sich nicht aussuchen – es gab viele Bewerber. Wie gut, dass die Familie die beiden bereits auf Wartelisten gesetzt hatte, als sie noch strikt alle Umzugspläne ablehnten. Als schließlich im November 2020 eine passende Wohnung frei wurde, war das wie ein Treffer im Lotto. Während der Umzug konkret wurde, erstarrte Deutschland im zweiten Lockdown. Wochenweise wurde entrümpelt und gepackt. Zur zentralen Anlaufstelle wurde in dieser Zeit die gemeinsame WhatsApp-Gruppe, in der man sich organisierte, Tipps austauschte und auch einfach mal Frust abladen konnte. Irgendwer antwortete immer. Überhaupt wuchs die Familie in dieser Übergangszeit zusammen.

Ein unersetzlicher Moment war die Hochzeit der Enkelin Anne Blatter-Miredin für Nikolaus und Elisabeth Hohn.
Ein unersetzlicher Moment war die Hochzeit der Enkelin Anne Blatter-Miredin für Nikolaus und Elisabeth Hohn. | Bild: Julie Troxler

Das Organisatorische war die eine Seite. Die seelische Verarbeitung die andere. Das zeigte sich besonders stark in der Phase nach dem Umzug. Elisabeth und Nikolaus sind Kriegskinder. Beide wurden ausgebombt, Elisabeth war sogar einmal länger verschüttet. Zwangsevakuierung und Flucht folgten. Beide wissen nur allzu gut, was es bedeutet, alles zu verlieren. Immer wieder kehrten diese Erinnerungen während des Umzuges zurück – teilweise unbewusst als diffuse Gefühle von Ausgeliefertsein und Angst, teilweise aber auch bewusst in vielen Gesprächen. Schmerzhafte Erinnerungen erschwerten die Kommunikation. Als Kriegskinder waren die Eltern stark auf sich gestellt und mussten viel zu früh erwachsen werden. Unterstützung wurde deshalb oft nur ungern akzeptiert. Viele Situationen folgten, in denen Hilfe notwendig war und Vertrauen schrittweise aufgebaut werden konnte. Es wird noch ein langer Prozess sein, der immer wieder ausgehandelt wird. „Wir machen das nach dem Motto: So viel Hilfe wie nötig und so wenig wie möglich“, stellt Elisabeth resolut fest. Aufgaben abzugeben fällt ihr immer noch schwer. Nikolaus hingegen genießt sehr den Anschluss an die Familie – wie auch seine Enkelin Anne: „Ich tue alles dafür, damit Opa dieses Strahlen im Gesicht hat“, meint sie.

Ulrike Blatter mit Vater Nikolaus und Mutter Elisabeth Hohn sowie Enkelin als Kistenpackerteam.
Ulrike Blatter mit Vater Nikolaus und Mutter Elisabeth Hohn sowie Enkelin als Kistenpackerteam. | Bild: Blatter privat

Zur Autorin: Ulrike Blatter aus Gottmadingen ist die Tochter des Ehepaares Hohn. Als Ärztin mit psychotherapeutischer Weiterbildung hat sie im Einsatz in den Nachwirren des Balkankonflikts reichlich Erfahrung mit Kriegstraumata gesammelt. Heute schreibt sie Bücher.

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Wohnen und Pflege im Alter

  • Zu den Personen: Nikolaus Hohn wurde in der Eifel geboren und kam als junger Mann nach Köln, wo er seine Lebensliebe Elisabeth bei der Arbeit kennenlernte. Er arbeitete als Paketzusteller, Elisabeth als Fußpflegerin bis zum 80. Lebensjahr.
  • Zum Hintergrund: Neben Pflegeheimen gibt es weitere Wohnformen. Idealerweise liegen barrierefreie, altersgerechte Wohnungen in einer Anlage, die einen Sozial- und Pflegedienst sowie Freizeitgestaltung anbietet. Wohnheime oder – in der luxuriösen Variante – Seniorenresidenzen bieten mehr Versorgung, aber man sollte genau abklären, ob die jeweilige Einrichtung zu den eigenen Bedürfnissen passt. Wichtig kann sein, ob Pflege im Haus möglich ist oder ob es spezielle Angebote für Demenzkranke gibt. Relativ neu sind betreute Wohngemeinschaften, die Selbstständigkeit und Teilhabe fördern – in einer alternden Gesellschaft mit spürbarem Pflegenotstand ein wichtiger Aspekt.
  • Zur Lebensgeschichte: Menschen, die als Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebten, sind fürs Leben gezeichnet oder sogar traumatisiert. Wenn es stressig wird – Fachleute sprechen von kritischen Lebensereignissen – kann das Gefühl entstehen, dass es wieder um Leben und Tod geht. Ein Umzug steht auf der Skala der kritischen Lebensereignisse weit oben und kann bei ehemaligen Kriegskindern alte Traumata aktivieren. Angst entsteht vor dem Verlust der Habe oder der Identität. Immer wieder sollte deshalb besprochen werden, was erhalten bleibt, was man loslassen kann und was im Gegenzug an Schönem gewonnen wird. Die Traumaforschung weiß, dass seelische Verletzungen umso tiefer gehen, je stärker das Gefühl von Hilflosigkeit und Kontrollverlust ist.
  • Zur Situation: Die unübersichtliche Umzugssituation löst Stress aus, der zu Konzentrationsproblemen führt. Bei älteren Menschen mit bereits vorhandenen Gedächtnisproblemen kann das Verunsicherung und Angst auslösen und schlimmstenfalls in einen Teufelskreis der Vergesslichkeit führen, da sich die Betroffenen immer weniger zutrauen. Alltagsroutinen in einem geschützten Umfeld mit stabilem Kontakt zu vertrauten Menschen können hilfreich sein.