Khairi Khuder hat keine Lust mehr auf Stuttgart. Die Stadt steht für das Olgahospital, eine Klinik für Kinder. Und damit für komplizierte Operationen und den Schmerz der Vergangenheit. Sie scheint der sechsjährige Junge vergessen zu haben. Trifft man Khairi, irritiert nur sein Alter.

Der kleine gedrungene Körper, die zarten Arme, das schmale Gesicht: Er sieht nicht wie ein Schuljunge aus. Dass er tatsächlich noch einen Kindergarten besucht, ist eine Lappalie, verglichen mit dem, was seiner Familie in ihrer Heimat Irak geschah.

Sie brachen ihm am gesamten Körper die Knochen

Der Junge wurde brutal gefoltert: Arme, Beine, Nase, Rippen, am gesamten Körper brach ihm ein junger IS-Kämpfer die Knochen und tat ihm Schlimmeres an. „Alles“, sagt Jaleela Khuder auf die Frage, was noch passiert sein muss mit ihrem Sohn. Dann blickt sie auf den Tisch vor sich.

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Begonnen hatte es nach der Besetzung des Nordiraks durch die Terrororganisation im August 2014. Khairi war gerade eineinhalb Jahre alt und gerät wie seine Mutter Jaleela in IS-Gefangenschaft. Erst zweieinhalb Jahre später können sie fliehen, der gerade volljährige Peiniger starb im Krieg. Auch Jaleela Khuder hatte er zuvor geschlagen, missbraucht, vergewaltigt.

Jaleela Khuder und ihr Sohn Khairi nach einem Gespräch mit der Redaktion im Oktober 2019.
Jaleela Khuder und ihr Sohn Khairi nach einem Gespräch mit der Redaktion im Oktober 2019. | Bild: Brumm, Benjamin

„Ins Ohr wurde Khairi gebissen, nehme ich an“, sagt Andreas Gammel, „deshalb sieht es so geschunden aus.“ Der Arzt aus dem schwäbischen Mössingen hatten ihn, seine Mutter und seine Schwester Mitte 2017 nach Deutschland geholt.

Andreas Gammel, Arzt aus Mössingen, hat Khairi und seiner Familie den Weg nach Deutschland bereitet.
Andreas Gammel, Arzt aus Mössingen, hat Khairi und seiner Familie den Weg nach Deutschland bereitet. | Bild: privat

Genauer Wohnort muss aus Sicherheitsgründen geheim bleiben

Noch immer kämpfte damals der IS im Nordirak. Erst im Februar 2018 kamen Khairis ältere Brüder nach. Sie waren zusammen mit ihrem Vater Hazm zurückgeblieben. Über Nürnberg gelangte Jaleela Khuder mit Khairi und seiner Schwester Marya zu Verwandten in die Umgebung von Konstanz. Nachdem ihn ein Team des Magazins „Stern“ begleitet hatte, ist Andreas Gammel und das Schicksal der der Khuders bundesweit bekannt.

Dem SÜDKURIER liegt die Adresse der Unterkunft der achtköpfigen Familie vor. Weil sie der jesidischen Minderheit angehören und damit unter besonderem Schutz stehen, darf diese – nicht zuletzt zur Sicherheit anderer Hausbewohner – nicht detailliert veröffentlicht werden.

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Im Dezember sollen Khairi Platten aus seinem Bein entfernt werden

Mit der für Ende Dezember in Stuttgart anberaumten Operation steht für Khairi ein wichtiger Schritt bevor: Eine Platte aus seinem rechten Bein soll entfernt werden. „Wahrscheinlich zeitgleich auch die aus dem linken“, sagt Andreas Gammel.

Dass der Junge überhaupt wieder Schritte geht – wenn auch noch mühevoll, insbesondere über Stufen – erklärten deutsche Ärzte später mit seinem noch im Wachstum befindlichen Kinderkörper. „Die Operation am Ohr ist nur eine kosmetische Sache“, sagt Andreas Gammel, „aber sie erinnert eben ständig an das Trauma, das er durchlebt hat.“

Geplantes Karriereziel: Fußballstar bei Real Madrid

Zwei Wochen nach den OPs wird Khairi sieben Jahre alt werden und sein aktuelles Projekt weiter verfolgen: Fahrradfahren lernen. „Es läuft schon ganz gut, noch benötigt er aber ein Laufrad“, sagt die Betreuerin der Familie, Sabine Cerny vom Landratsamt Konstanz. Überhaupt sei er im Kindergarten gut aufgenommen worden, fühle sich wohl. Die Aggressivität, die er anfangs noch zeigte, scheint zurückzugehen.

Statt Konflikte mit Gewalt lösen zu wollen, tritt Khairi nun lieber gegen den Ball. „Fußballer bei Real Madrid“, das wolle er werden, sagt der Sechsjährige. Sein Lieblingsspieler – auch wenn der inzwischen in Italien spielt: „Ronaldo, Cristiano.“ Khairi grinst breit, sein Gesicht verrät ihn: Er versteht in der Unterhaltung fast jedes Wort, was auch die Betreuerin des Landratsamts bestätigt.

Wohnungssuche wird zum Problem

Jaleela Khuder wünscht ihrem Sohn nur: „Er soll gesund werden, ein normales Leben führen.“ Formal stünde diesem Leben auch in Deutschland nichts im Wege. Die achtköpfige Familie – Jaleela, ihre Tochter und die vier Söhne, ihre Schwägerin Ekhlas und deren Mann – dürften wohl bleiben. Und das wollen sie, wie sie versichern. Und die Sehnsucht nach der alten Heimat? Verwundert über die Frage blickt Jaleela drein. „Welche Heimat? Der Irak wird nicht mehr wie früher, er wird eher schlimmer“, sagt sie.

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Andreas Gammel, der der Familie „auch künftig als ein guter Onkel beiseite stehen will“, erklärt: Jesiden seien im Irak nicht willkommen, nicht wirklich durch kurdische Rebellen und schon gar nicht durch die Schergen des IS. Er räumt den Khuders gute Chancen auf ein dauerhaftes Leben in Deutschland ein.

Im vergangenen Frühjahr habe er zuletzt einen Nachweis über die Notwendigkeit einer weiteren Behandlung von Khairi vorgelegt. Neue Heimat Deutschland also; Konstanz, um genau zu sein. Und das macht die Pläne kompliziert.

Verwegener Wunsch: Eine günstige Wohnung für acht Personen in Konstanz

Denn alle acht wollen zusammenbleiben. Wie aber soll in Konstanz dafür eine Wohnung gefunden werden, bezahlbar obendrein? Auf diesen Wunsch legen sie sich im Gespräch fest. Andreas Gammel ist realistisch: „Sie werden Abstriche machen müssen.“

Der Wunsch der acht Geflüchteten klingt mehr als verwegen: Zusammenbleiben, nicht viel bezahlen und nicht in einen Vorort ziehen, sondern möglichst nah ans Zentrum. So fasst es Jaleelas Schwägerin Ekhlas zusammen, die am besten Deutsch spricht und deshalb als Übersetzerin für die Familie wirkt.

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Dreist? Ja, und doch verständlich, wenn man der Einordnung von Betreuern oder Andreas Gammels folgt. „Jaleela ist mit fünf Kindern im Alter zwischen bald sieben und knapp 15 Jahren allein überfordert“, sagt Gammel. Sie ist selbst erst Ende 20, habe selbst ein schweres Trauma durchlebt. Eine gute Anbindung sei wichtig, um in der Gesellschaft anzukommen, auch weil die Familie kein Auto besitzt und Ekhlas in Konstanz zur Schule gehe. „

Aber natürlich ist ihnen zuzumuten, dass sie mit dem Bus oder dem Zug pendeln“, stellt Gammel klar. Zumal keines der Familienmitglieder im Gespräch undankbar wirkt – sondern eher unwissend über die Wohnungssituation in Konstanz. Immer wieder sagt Jaleela, wie wohl sie und ihre Familie sich fühlten. Obwohl sie in einer Unterkunft für Geflüchtete auf beengtem Raum lebten.

Trauer um verstorbenen Mann Hazm

Aber das Wetter, der Nebel, die Bürokratie – gibt es nicht irgendetwas, was sie stört, was ihr fehlt? Jaleela lächelt beschämt und schüttelt immer wieder den Kopf. Bis sie doch – etwas verdruckst – sagt: „Mein Mann, ich vermisse ihn.“ Sie wird ihn nicht wieder sehen. Hazm Khuder verstarb im Herbst 2017 im Irak.

Auf die Finger ließ sich Jaleela Khuder den Namen ihres toten Mannes Hazm tätowieren.
Auf die Finger ließ sich Jaleela Khuder den Namen ihres toten Mannes Hazm tätowieren. | Bild: Brumm, Benjamin

„Ich habe unterschätzt, wie er sich fühlen musste“, gibt Andreas Gammel heute zu. Er hatte Hazm Khuder ursprünglich kritisch bewertet, weil er ihm zu viel Alkohol trank und wenig liebevoll mit seiner Familie umgegangen sei. „Aber die Trennung setzte ihm schwer zu. Fakt ist: Jaleela hat ihn über alles geliebt.“ Sie reiste 2018 zur Beerdigung noch einmal in den Irak.

„Andere Frauen sollten das nicht erleben müssen“, sagt Jaleela Khuder noch. Und dann lächelt sie scheu. Andreas Gammel sagt über diese Reaktion: „Sie funktioniert für ihre Familie, es ist schwer, überhaupt zu ihr durchzudringen, eine Therapie lehnt sie noch ab.“ Die These des Mediziners und „guten Onkels“ der Familie: Sobald sie diese doch angehe, werde sie angesichts der Erlebnisse zusammenbrechen.

Nächstes Ziel für Khairi: „So groß“ werden

Bis dahin müht sich Jaleela Khuder um Integration. „Sie macht jetzt Fortschritte, lernt nach und nach Deutsch“, erklärt nun noch einmal Sabine Cerny vom Landratsamt. Möglich sei das, weil sie einen Platz in einem Kurs gefunden habe, der nur bis zur Mittagszeit dauere. Die meisten fänden ganztags statt. Als Mutter von fünf Kindern ist das nicht lösbar.

Bild 4: Khairi will groß und gesund werden: Wie es einem vom IS gefolterten Jungen in seiner neuen Heimat Konstanz geht
Bild: Brumm, Benjamin

Das jüngste – der kleine Khairi – will erst einmal eines, abgesehen vom Karrierestart zum künftigen Fußballstar: Groß werden, und gesund. „So groß“, sagt er und breitet die Arme weit aus.