Gute Rockmusik, wenn man sie denn nur laut genug hört, hat etwas ungeheuer Befreiendes. Die Berliner Ärzte setzen sie nun schon seit vielen Jahren als Therapie bei allen möglichen psychischen Beschwerden ein: bei schlechter Laune, depressiven Anwandlungen, stressbedingten Persönlichkeitsstörungen aller Art.

Laut Polizei fanden sich 25.000 Fans am Samstag, 10. September, zur kollektiven Behandlung im Konstanzer Bodenseestadion ein – und deren Erfolg ließ sich schon nach kürzester Zeit diagnostizieren: Tausende tanzten und sangen mit, ausgelassene Stimmung, wohin man nur blickte.

Harte Punk-Knaller wechseln sich mit ruhigeren Tönen ab

1982 gründeten sich Die Ärzte. In der heutigen Besetzung (Farin Urlaub, Gitarre und Gesang; Bela B., Schlagzeug und Gesang; Rodrigo Gonzales, Bass und Keyboards) spielen sie seit 1993 zusammen. In diesen vier Jahrzehnten haben sie natürlich ein ungeheures Repertoire zusammengetragen.

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Aber obwohl sicherlich der eine oder andere Fan den einen oder anderen Song vermisst hat, gab die Setlist an diesem Abend doch einen recht repräsentativen Überblick über das kreative Gesamtwerk der Band – von frühen Singles wie „Zu spät“ und „Du willst mich küssen“ bis hin zu aktuellen Hits wie „Noise“ und „Dunkel“. Harte Punk-Knaller wie etwa „Friedenspanzer“ wechselten sich ab mit deutlich vom Sixties-Pop beeinflussten Stücken (etwa „Buddy Holly‘s Brille“).

Dass es bei Ärzte-Gigs jede Menge Klamauk gibt, auch ziemlich sinnfreien, sollte sich herumgesprochen haben – dieses Mal übertrieben sie es sogar ein wenig (auch wenn das selbstverständlich Geschmackssache ist). Äußerst innovativ war allerdings die Licht-La-Ola, zu der sie das Publikum animierten, und dass es ihnen gelang, Tausende zu gymnastischen „Auf-Nieder“-Übungen zu bewegen (beim Song „Unrockbar“), ist schon phänomenal.

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Ähnlich wie die Toten Hosen, die eine Woche vorher im Bodenseestadion gastierten, haben sie, kein Wunder nach inzwischen vier Besuchen hier, eine ganz besondere Beziehung zum Konstanzer Publikum: In dem Wort „Konstanz“ sei ja auch das Wort „Tanz“ enthalten, konstatierte Frontmann Farin Urlaub – und auch eine bekannte regionale Brauerei würde gewürdigt, mit einem Lob auf das wohlschmeckende „Rathaus“-Bier.

Von der Begeisterung, die der Band an diesem Abend entgegenschlug, waren die Musiker sichtlich angetan: „Ich hätte heute auch Eintritt gezahlt, um euch zu sehen“, bekannte Sänger und Gitarrist Farin Urlaub einmal zwischen zwei Songs – und man hatte durchaus den Eindruck, dass das nicht nur leeres Gerede war.

Gegen Nazis helfen laut den Ärzten auch keine Pillen

Und trotz aller Frotzeleien, bei denen sich in erster Linie Schlagzeuger und Ko-Sänger Bela B. hervortat, gab es auch genug Ernsthaftes in den Lyrics der an diesem Abend präsentierten Songs. Vom Beginn ihrer Karriere an haben Die Ärzte nie einen Zweifel daran gelassen, dass es eine Personengruppe gibt, die ihrer Meinung nach so gut wie untherapierbar ist: die der Rechtsradikalen.

„Nazis sind Nazis, weil sie Nazis sein wollen“, heißt es in dem Song „Doof“ (aus dem aktuellen Album „Dunkel“), „da helfen keine Pillen, nicht beim allerbesten Willen.“ Mit stürmischem Beifall wurde dieses Stück bedacht, desgleichen „Schrei nach Liebe“: ihr zynischer Kommentar zur Lage unter dem Eindruck der fremdenfeindlichen Brandanschläge in Deutschland im Herbst/Winter 1992, im Bodenseestadion dreißig Jahre später in einer besonders knalligen Version dargeboten.

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Der vielleicht beste Song an diesem Abend in Konstanz war „Rebell“, eine Komposition aus dem 1998 erschienenen „Album 13“, ein Stück, das die Philosophie der drei Berliner auf den Punkt bringt: ein rotziges Plädoyer für die Freiheit des Individuums, unterlegt mit wunderbar einprägsamen Gitarrenakkorden. Weitere Höhepunkte: der Klassiker „Mach die Augen zu“, der das weite Oval des Bodenseestadions in ein Lichtermeer aus emporgereckten Smartphones verwandelte.

Und „Junge“, einer der bekanntesten Ärzte-Songs überhaupt, der einzig darunter litt, dass man sich hier unwillkürlich wünschte, die drei Berliner hätten hierzu Schlager-Fossil Heino als Stargast mitgebracht. Warum? Weil der inzwischen 83-jährige Volksmusik-Barde die Figur des verknöcherten Spießers in diesem Song nun einmal ungleich besser verkörpern kann, als Alt-Punker Farin Urlaub es je könnte...

Zwölf zusätzliche Songs geben Die Ärzte zum Besten

Und weil die Ärzte keine Band wie jede andere sind, verzichteten sie auf das bei Konzerten dieser Art übliche Spiel bei Zugaben (die Band geht von der Bühne, die Fans johlen eine Weile, die Band kommt wieder): Sage und schreibe zwölf zusätzliche Songs präsentierten sie in einem zusammenhängenden Block (darunter ein Medley aus „Zu spät“ und „Claudia hat ‚nen Schäferhund“).

Mit einem a capella gesungenen „Gute Nacht“ entließen sie die tausenden Patienten vom Bodensee, die anschließend in ihrer großen Mehrheit sichtlich glücklich den Ausgängen entgegenstrebten. Therapie erfolgreich abgeschlossen, keine Frage.