Manchmal ist es schwierig, seine eigene Identität zu finden. Vor allem dann, wenn man tagtäglich daran erinnert wird, dass man eigentlich gar nicht zu der Gesellschaft gehört, in die man hinein geboren wurde und in der man sich wohl fühlt.
„Deutschland ist nicht weiß“
„Nicht weiß und Deutscher – das passt für viele nicht zusammen“, sagt Linda Addae, die in Singen auf die Welt kam, aus Rielasingen kommt und die Universität Konstanz besucht. „Dabei ist Deutschland nicht weiß. Die meisten Menschen sind Hybride: Das Essen ist international, die Musik amerikanisch. Deutschland muss sich als Kulturraum jeden Tag neu finden.“
Die 26-Jährige sitzt mit zehn weiteren Menschen, die meisten sind in der Vereinigung „Black Lives Matter„ aktiv, im Garten des Konstanzer Gemeinderats Mohamed Badawi. Der Mann hat bei der Gemeinderatswahl 2019 die meisten Stimmen aller Bewerber erhalten. Auch er weiß bestens, wie es sich anfühlt, rassistisch angegriffen zu werden.
Im Gespräch mit dem SÜDKURIER im Juni 2019 forderte er nachhaltige Maßnahmen, um das Verkehrsaufkommen im Zentrum von Konstanz in den Griff zu bekommen: „Ich wäre dafür, Autos graduell aus der Innenstadt zu verbannen.“
Dann kam die rassistische Mail...
Keine 20 Stunden später kam eine Mail mit diesem Inhalt: „Da kommt also so ein Mohamad aus dem Sudan und will Deutschen vorschreiben, dass sie ihr DEUTSCHES Auto nicht mehr in der Innenstadt benutzen sollen. Mohamads haben wir hier eh schon zu viele. Und von mir aus stechen sie sich alle gegenseitig ab. Aber vorschreiben lassen wir uns von diesen gar nichts. Also ab in den Sudan und dort gegen Autos kämpfen, falls es dort überhaupt welche gibt.“ Badawi nahm den Inhalt ernst, ließ sich aber nicht entmutigen. Die alltägliche Portion Rassismus.
Schwarzer Bürgermeister? „Konstanz ist noch nicht bereit dafür“
Es gibt nicht wenige, die den ausgleichenden und Harmonie suchenden Mann gern als Kandidat für die Wahl des Oberbürgermeisters im September gesehen hätten. „Konstanz ist noch nicht bereit dafür, aber die Gruppe möchte sich deswegen umso mehr engagieren“, sagt Mhammed Ben Salem, Student am Gießberg, geboren im Schwarzwald. Er kritisiert die in seinen Augen strukturelle Verwurzelung von Rassismus in der Regio-Politik.
Badawi verfolgt das angeregte Gespräch zwischen Journalist und Aktivisten interessiert aus dem Hintergrund. Die Diskussionen kommen schnell ins Stocken. Nicht aus inhaltlichen Gründen, da sind sich alle am Tisch einig: Ein besseres Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen darf nur auf friedlichem Weg erreicht werden. Mensch bleibt Mensch. Aussehen, Herkunft oder Religion dürfen da keine Rolle spielen.
„Wir sind People of Color. Wir sind keine Farbigen“
Es sind vielmehr die Begrifflichkeiten, die zu Beginn des Gesprächs Probleme bereiten. Der gemeinsame Nenner muss erst gefunden werden. „Wir sind People of Color“, sagt Linda Addae. „Also farbige Menschen?“, lautet die Gegenfrage. „Nein. Mit People of Color sind Menschen gemeint, die Erfahrungen mit Rassismus machen“, reagiert Linda Addae. „Dazu zählen nicht nur Schwarze, sondern auch Menschen anderer Hautfarbe oder Herkunft.“ Der Begriff Farbiger sei rassistisch und in der Zeit des Kolonialismus entstanden. Niemand hat keine Farbe. Die deutsche Sprache hat noch keine exakte Übersetzung der Bezeichnung People of Color. Man lernt nie aus.
„Als Weiße habe ich Privilegien“
Auch Lena Link sitzt am Tisch. Sie kommt aus Freising in Bayern und ist ebenfalls Studentin in Konstanz. „Ich weiß, ich habe als Weiße Privilegien“, sagt sie. „Das war mir vor Wochen noch nicht bewusst. Bei dem Thema kann ich nicht mitreden, weil ich keine Erfahrung gemacht habe. Aber ich möchte gerne bei ,Black Lives Matter‚ mitmachen und mich engagieren.“ Die anderen Menschen am Tisch bekunden ihre Zustimmung mit einem spontanen Applaus. Unterstützung und Hilfe ist immer willkommen. Lena Link möchte zusammen mit Mai Linh an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung eine Hochschulgruppe gegen Rassismus gründen.

Erfahrungen mit Diskriminierung und Rassismus haben fast alle gemacht hier am Tisch. „Ich war immer die, die Mohamed mit Nachname hieß und der man alles fünfmal erklären musste“, berichtet Marviin Mohamed. „Ich habe mich in der Grundschule ausgeschlossen gefühlt.“ Heute besucht sie die Geschwister-Scholl-Schule.
„In Deutschland hast Du dich zu benehmen“
Ein zwischenzeitlich pensionierter Lehrer habe ihr mal während des Unterrichts ins Gesicht gesagt: „Du bist hier in Deutschland. Hier hast du dich zu benehmen.“ Der Grund laut ihrer Schilderung: „Ich habe meinen Kopf auf meine Hand gestützt und wäre beinahe eingeschlafen. Ok, das war blöd. Aber gleich so eine Reaktion?“
Zusammen mit drei Freundinnen habe sie sich vor ein paar Jahren für ein sogenanntes Bogy-Praktikum (Berufsorientierung an Gymnasien) an der Uni beworben – sie erhielt drei Absagen, die Freundinnen wurden gleich beim ersten Mal genommen. „Sie tragen deutsche Nachnamen, ich nicht. Die Uni hat mich nach dem dritten Mal aufgefordert, mich bitte nicht mehr zu bewerben.“
Die Ausländer kommen – und damit die Angst, bestohlen zu werden...
Die Geschwister Samira und Sama Amin sind in Hessen geboren, sie kamen vor 13 Jahren nach Konstanz. „Bevor wir in die Wohnung eines Wobak-Gebäudes in Petershausen gezogen sind, haben sich unsere Nachbarn extra getroffen, um sich zu beraten. Sie hatten Angst, dass wir bei denen einbrechen würden“, erzählen sie. „Und noch heute gibt es Nachbarn, die uns nicht grüßen.“ Ihre Eltern kamen aus Afghanistan nach Deutschland.
„Du kannst aber gut Deutsch...“
„In der Grundschule wurde ich an den Ausländertisch gesetzt“, erinnert sich Samira Amin. „Die Lehrer haben uns gefragt, wo wir herkommen würden, und wenn wir antworteten ,aus Groß-Gerau‚, waren sie verwundert.“ Ihre Schwester Sama nickt. „Du kannst aber gut Deutsch – wie oft haben wir das gehört. Klar können wir gut Deutsch. Wir sind in Deutschland geboren und aufgewachsen.“ Lehrer hätten ihr verboten, sich mit der Schwester auf Persisch zu unterhalten. Die alltägliche Portion Rassismus.

„Das Tanzen habt Ihr ja um Blut...“
Linda Addae kennt solche Situationen. „Wir werden nur akzeptiert, wenn wir uns assimilieren und ins Raster passen“, sagt sie. „Gerade weil es alle Konstanzer betrifft, ist es wichtig, dass alle sich mit dem Thema Rassismus auseinandersetzen. Es ist wichtig, dass wir Rassismus beobachten, wir diesen ansprechen, benennen und bekämpfen.“ Auch sie hat Zeit ihres Lebens mit Vorurteilen, Diskriminierung und Rassismus zu kämpfen. Immer wieder sieht sie sich mit solchen Sätzen konfrontiert: Du kannst bestimmt gut tanzen, das habt ihr ja im Blut. Eben die alltägliche Portion Rassismus.